Grüner, blauer, grauer Wasserstoff – viele Farben, ein Ziel

Die Klimadebatte hat eines klar gemacht: Wasserstoff ist ein Kernbestandteil bei der Erreichung europäischer Klimaziele, und mehr als 20 Länder weltweit haben allein in den letzten zwölf Monaten einen nationalen Wasserstoffplan vorgestellt. Mit über 60 Leuchtturmprojekten will Deutschland das Wasserstoffland Nummer 1 werden, denn Wasserstoff ist der einzige wirklich universelle Energieträger und kann prinzipiell überall unter Nutzung unterschiedlicher Primärenergiequellen hergestellt werden. Viele Optionen, die eine ganz neue Farbenlehre begründet haben.

Grün ist das Ziel, aber blau ist der Weg
Inzwischen kommen beinahe monatlich neue Farbschattierungen dazu, im Kern aber sind es drei: Grauer Wasserstoff aus Erdgas macht derzeit den Großteil der weltweiten Produktion aus. Dabei wird Erdgas in H2 und CO2 aufgespalten. Und trotz seiner Herkunft ergibt sich im  Vergleich zum direkten Einsatz fossiler Energien ein CO2-Vorteil. Blau wird der graue  Wasserstoff, wenn der CO2-Anteil aufgefangen und gespeichert wird. Von grünem Wasserstoff sprechen wir, wenn er mit erneuerbarem Strom erzeugt wird. Die CO2-Emissionen sinken dann praktisch auf null. Diese Form der Wasserstofferzeugung bleibt das ultimative Ziel. Heute allerdings liegt der Anteil des so erzeugten Wasserstoffs noch bei weniger als einem Prozent. Kurz- und mittelfristig wird grüner Wasserstoff auch kaum in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Für 2030 schätzt der Nationale Wasserstoffrat den Industriebedarf in Deutschland auf 1,7 Millionen Tonnen (ohne Raffinerien). Der könnte sich bis 2050 auf neun Millionen Tonnen pro Jahr erhöhen.

Um diese enorme Menge Wasserstoff grün produzieren zu können, müsste die Produktion von erneuerbarem Strom sprunghaft anwachsen. Nimmt man das Ziel des Bundesministeriums für  Wirtschaft und Energie, den Anteil des grünen Stroms in Deutschland von derzeit rund 50% bis 2030 auf 65% zu erhöhen, wird grüner Strom zu einem knappen Gut.

Erdgas bleibt als Rohstoff zunächst unverzichtbar
Um die grau-grünen Größenverhältnisse anschaulich zu machen: Linde betreibt an der US-Golfküste ein Wasserstoff-Pipelinenetz mit mehr als 15 Produktionsanlagen. Um die Kapazität einer einzigen dieser erdgasbetriebenen Anlagen zu ersetzen, bräuchte es eine Elektrolysekapazität von über 400 MW. Der weltgrößte PEM-Elektrolyseur, den Linde in der zweiten Jahreshälfte 2022 in Leuna in Betrieb nehmen wird, hat eine Leistung von 24 MW. Wir bräuchten also mehr als 300 solcher Anlagen, um allein die Wasserstoffproduktion von Linde an der Golfküste der USA umzustellen.

Es überrascht daher nicht, dass weltweit gerade bei blauem Wasserstoff zurzeit eine ganze Reihe von Großprojekten an den Start gehen. Das Bestechende an diesen Projekten: Man kann bestehende, milliardenschwere Infrastruktur weiter nutzen, intelligent ergänzen und damit den Übergang zu einer CO2-freien Wirtschaft voranbringen. Wie sich der Anteil des grünen Wasserstoffs entwickelt, wird aber auch nicht zuletzt von der Entwicklung der Elektrolysekosten abhängen. Zusammen mit anderen Vorteilen besitzt dabei die PEM-Technologie (Proton Exchange Membrane) aus unserer Sicht das größte Kostensenkungspotenzial.

Deutschland droht seinen technologischen Vorsprung zu verspielen
Doch zurück zu den Plänen in Deutschland: Aktuell haben wir hierzulande noch einen technologischen Vorsprung in fast allen Aspekten der Wasserstoff-Wertschöpfungskette. Den gilt es zu verteidigen, indem wir die bestehenden Technologien in die breite Umsetzung bringen, statt uns bei Einzelprojekten in kleinteiligen Diskussionen über die Farbpalette des Wasserstoffs zu verzetteln. China, Korea, Japan und inzwischen auch die USA sind schneller bei der großtechnischen Umsetzung der Wasserstoffherstellung und -anwendung.

Es besteht die Gefahr, dass sich eine Entwicklung wiederholt, wie wir sie bei Akkumulatoren, Halbleitern oder der Photovoltaik erlebt haben. Deutschland droht seinen technologischen Vorsprung zu verspielen, während andere Länder sich die langfristige Wertschöpfung sichern. Jetzt gilt es, mit dem notwendigen Pragmatismus stabile Rahmenbedingungen und Investitionssicherheit zu schaffen, denn unterm Strich gilt: ob grün, blau oder grau – jede Farbe hat ihre Berechtigung, wenn es um den Beitrag von Wasserstoff zur Reduzierung von Kohlendioxidemissionen geht.

Dr. Andreas Opfermann
Executive Vice President Clean Energy bei Linde

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Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ erschienen.

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