Erhöhte Bedrohungslage: Nachrichtendienstliche Cyberabwehr im multidimensionalen Konfliktfeld

Artikel aus dem Handelsblatt Journal CYBERSECURITY & DATENSCHUTZ vom 21.11.2022

Mit dem Überfall auf die Ukraine hat das russische Regime alle Brücken der Verständigung mutwillig zerstört. Ein verbrecherischer Angriffskrieg riskiert den offenen Schlagabtausch zwischen Autoritarismus und Demokratie. In diesem multidimensionalen Konflikt wird nun schmerzhaft spürbar, wovor das Bundesamt für Verfassungsschutz und andere Sicherheitsbehörden vielfach gewarnt haben: In einer hochgradig interdependenten Welt sind nicht nur Chancen und Potenziale miteinander vernetzt, sondern auch etliche Risiken und Angriffsflächen.

Während Interdependenz in einer kooperativen, regelbasierten Ordnung Prosperität und Mobilität stimuliert, erfahren wir aktuell in einem konfrontativen Wettkampf der Systeme, wie durch hohe Verflechtung beinahe alles zur Waffe mutieren kann. Die Zugänge zu Rohstoffen, Absatzmärkten, Technologien, Infrastrukturen sowie den Mitteln und Medien der öffentlichen Meinungsbildung entscheiden mehr denn je über die Vulnerabilität offener Gesellschaften – und werden dementsprechend von den Gegnern und Rivalen der Demokratie als strategische Gefechtsfelder interpretiert.

Dies gilt seit jeher für den Cyberraum, der durch seine scheinbare Grenzen- und Regellosigkeit ein berüchtigter Schauplatz ist für das Kräftemessen mit fremden Mächten, die ihre Dienste umfangreich gerüstet für leistungsstarke Angriffskampagnen einsetzen. Auch in diesem Feld wird Russland längst als aggressiver Akteur mit unlauteren Motiven und komplexen modi operandi von unserer Cyberabwehr erkannt, öffentlich benannt und entsprechend operativ bearbeitet.

Doch zweifellos verschärfen die militärischen Kampfhandlungen in der Ukraine und die gravierenden geopolitischen Verwerfungen die Arbeitsintensität in der Cyber-, Spionage- und Proliferationsabwehr des Verfassungsschutzes. Mit Blick auf das massive Sanktionsregime werden sich die russischen Aufklärungsbemühungen mutmaßlich verstärken, um dringend benötigten Wissenstransfer zu gewährleisten. Wir werten zudem politische Entscheidungsträger, diplomatische Vertretungen sowie Rüstungskonzerne als weitere potenzielle Hochwertziele.

Daneben besteht die hohe Bedrohungslage durch Sabotage fort. Auch wenn bislang keine gezielten Cybersabotageangriffe gegen deutsche Stellen festgestellt werden konnten, hat unser Bundesamt Erkenntnisse zu bereits vergangenen Aufklärungsaktivitäten staatlicher russischer Cyberakteure gegen das deutsche Stromnetz sowie Unternehmen und Zulieferer der Kritischen Infrastruktur. Das umfangreiche Auskundschaften dieser sensiblen Angriffsfläche wird für russische Dienste ein attraktives Ziel bleiben, um Eskalationspotenziale für den Fall einer Konfliktverschärfung aufzubauen.

In dieser kritischen Gemengelage bewähren sich unsere robusten nationalen wie internationalen Partnerschaften sowie die Tatsache, dass wir uns bereits in den zurückliegenden Jahren auf erhöhte Aktivitäten fremder Dienste eingestellt haben. So stärken wir unsere zuständige Abteilung durch personellen Aufwuchs und synergetische Umstrukturierung. Gemäß der Realität unseres Arbeitsumfeldes, in dem die Unterscheidung von Realwelt und Cyberraum nahezu obsolet geworden ist, haben wir unsere Cyber- und Spionageabwehr maximal verzahnt und organisatorisch zusammengeführt. Denn wir müssen den holistischen Ansatz unserer Gegner spiegeln und durch effiziente operative Gegenmaßnahmen kontern, anstatt uns in theoretischen Begrifflichkeiten und artifiziellen Zuständigkeiten zu verlieren.

Zudem stellten wir nach Ausbruch des Krieges für Unternehmen und Betreiber Kritischer Infrastrukturen Informationen zur Bedrohungslage bereit und unterstützen mit Indikatoren auf aktuelle Angriffsserien potenziell Betroffene dabei, ihre Systeme zu schützen. Wir stehen im beständigen Austausch mit anderen Bundesbehörden und Ressorts zur Analyse von staatlicher Propaganda, die insbesondere durch soziale Medien oder gefälschte Accounts lanciert wird. Und wir beobachten aufmerksam die mögliche Gefährdung von Institutionen und Personen im politischen Raum – wie etwa durch den Cyberakteur „Ghostwriter“. In diesem Jahr haben wir erneut Aktivitäten detektiert und durch rasche Sensibilisierungen erwidert. Daraufhin konnten durchschlagende Desinformations- und Einflusskampagnen in Deutschland bislang nicht verzeichnet werden.

Diese ausgewählten Beispiele sind lediglich Einzelbausteine einer Brandmauer, die es gegen entschlossene und potente Rivalen zu behaupten gilt. Sie beobachten sehr genau, ob sich in dieser Sicherheitskrise die offene Gesellschaft als wahrhaft wehrhaft, wehrwillig und wehrfähig erweist. Wenn Spionageabwehr auch im Cyberraum gelingt und wir auf die Entschlossenheit unserer Gegner mit großer Geschlossenheit der Demokratien reagieren, können wir an dieser entscheidenden Konfliktlinie unserer Zeit erfolgreich sein.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz leistet dazu seinen Beitrag, denn wir kennen unsere Gegner und nutzen unsere Fähigkeiten mit aller Kraft für die freiheitliche demokratische Grundordnung.

Im aktuellen Wettkampf der Systeme erfahren wir, wie durch hohe Verflechtung beinahe alles zur Waffe mutieren kann.

Thomas HaldenwangPräsident, Bundesamt für Verfassungsschutz
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