Mit SARS-CoV-2 und der daraus resultierenden Coronapandemie verstand die Welt schlagartig, welch zentrale Bedeutung Wissenschaft und Forschung innehat: Sie kann Leben retten und hält unsere Gesellschaft so am Laufen. Ungeduldig warteten 2020 die Nationen auf einen Impfstoff, der auch in Rekordzeit kam. Dank seiner Entwicklung überlebten viele Millionen schwer Erkrankte die Pandemie, der Notstand ist längst von der WHO als beendet erklärt. Nicht nur die Geschwindigkeit, in der der Impfstoff zur Verfügung stand, war bemerkenswert, sondern auch, dass biomedizinische Forschung in den Fokus von Wissenschaft, Politik und ganzen Gesellschaften rückte, wie selten zuvor.
Grundlagenforschung, die ja eine Schlüsselfunktion hat, weil sie mit ihren Entdeckungen in der Biomedizin überhaupt jede elementare Vorlage für einen gesuchten Wirkstoff ist, findet im Allgemeinen eher still und leise statt. An Universitäten oder in anderen Wissenschaftseinrichtungen verfolgt sie das Ziel, zu reiner Erkenntnis zu gelangen. Ob und wie die Forschung später einmal von Bedeutung sein wird, ist für diese Forschungsteams nicht relevant. Sie forschen um des Verstehens willen und halten ihre Erkenntnisse in wissenschaftlichen Publikationen fest. Erst mit der Entscheidung der pharmazeutischen Industrie, sich für die Herstellung eines Wirkstoffes zu engagieren, wird die Grundlagenforschung für konkrete Nutzung relevant.
Der lange Weg bis zur industriellen Herstellung
Die Industrie greift in diesem Fall nämlich auf die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zurück. Kann dann aus einem Konzept ein Wirkstoff abgeleitet werden, geht er in die Phase der klinischen Studien. Sind diese erfolgreich durchlaufen und die strengen Zulassungsbedingungen erfüllt, hätte er Chancen auf den Markt zu gelangen. Von der Grundlagenforschung bis zur Zulassung gehen gut und gerne zehn Jahre ins Land.
Zurück zum Impfstoff gegen COVID-19: Dass diese Entwicklungsphasen in solch Windeseile vonstattengegangen sind, war einem glücklichen Umstand geschuldet: Die Firma BioNTech forschte bereits seit längerem im Bereich von Krebserkrankungen an Impfstoffen, die auf mRNA-Molekülen basieren. Das dabei gewonnene Wissen ließ sich auf das Corona-Virus übertragen. Der auf diesen Erkenntnissen basierende Impfstoff passierte alle Zulassungen und gelangte zum Einsatz. Die Gründerin und der Gründer von BioNTech erhielten dafür das Bundesverdienstkreuz.
Eine Erfolgsgeschichte, die beispielhaft für den Forschungsgeist und die Innovationskraft im Land steht und auch für die Zukunft gelten soll. Noch sprechen wir von einer Schlüsselindustrie mit hohen deutschen Exportquoten von Pharmaerzeugnissen. Gleichzeitig stehen wir vor der Situation, dass viele Präparate nicht mehr auf dem heimischen Markt produziert werden und wir uns mit Lieferengpässen arrangieren müssen.
Deutschland muss ein starker Forschungsstandort bleiben
Deutschland muss als Forschungsstandort bestehen bleiben. Um die klugen Köpfe in der Grundlagenforschung zu halten, braucht es Gesetze und Strukturen, bei denen Politik und wissenschaftliche Einrichtungen gefordert sind: Es braucht ein attraktives Forschungsumfeld samt angemessener Entlohnung und Ausstattung.
Aber es gehört auch dazu, an der Reputation der Grundlagenforschung zu arbeiten und diese viel stärker ins Licht zu rücken. Denn öffentliche Anerkennung kann ein kraftvoller Motor sein: Sie motiviert einerseits die Forschenden, sie schafft andererseits Vorbilder für zukünftige Forscher und gerade auch Forscherinnen und kann so die Meinung einer ganzen Gesellschaft über die Biomedizin und die daraus resultierenden pharmakologischen Innovationen positiv beeinflussen.
Noch ein Erfolgsbeispiel: Galt eine HIV-Erkrankung in Deutschland in den 80ern noch als Todesurteil, so leben heute am HI-Virus erkrankte Menschen genau wie alle anderen. Dank erfolgreicher Forschung lässt sich der Ausbruch von AIDS bei rechtzeitiger Behandlung sogar verhindern.
Herausragende Innovationen brauchen öffentliche Wahrnehmung
Auszeichnungen küren solche echten Höchstleistungen. Nur so wird die Gesellschaft über eine herausragende Errungenschaft informiert und für alle Forschenden sind sie Vorbild und Motivation. Die in Deutschland als Galenus-von-Pergamon-Preis bekannte Auszeichnung prämiert Arzneimittel, die in den letzten drei Jahren eine Markteinführung hatten, würdigt aber auch erfolgversprechende Grundlagenforschung. Bereits seit fast 30 Jahren wird der Galenus-von-Pergamon-Preis in Deutschland jeweils im Oktober vergeben. Eine unabhängige Jury bestehend aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Medizin und Pharmakologie entscheidet jedes Jahr im Oktober darüber, wer diese Auszeichnung in verschiedenen Kategorien erhält. Seit seiner Einführung in Deutschland engagiert sich der Springer Medizin Verlag als Stifter. Das Netzwerk einer so großen Fachverlagsgruppe vermag es, über innovative Errungenschaften nicht ‚nur‘ zu berichten, sondern den Preis überhaupt vergeben zu können. Mit der Auslobung eines Preises wird in jedem Fall eine deutlich höhere Wahrnehmung generiert: Den Preis ausschreiben, Bewerbungen sichten, Portraits über die nominierten Bewerbungen veröffentlichen und schließlich die vielversprechendsten Forschungen per Juryentscheid ermitteln und in feierlichem Rahmen küren. All dies dient dem Ziel, biomedizinische Entdeckungen und Fortschritte bekannt zu machen.
Über die Jahrzehnte entwickelte sich der Galenus-von-Pergamon-Preis zu einer in der Fachwelt nicht mehr wegzudenkenden Einrichtung. In der pharmakologischen und pharmazeutischen Forschung wird er als inoffizieller Nobelpreis gehandelt. Aufgrund seiner Bedeutung liegt in Deutschland seine Schirmherrschaft beim Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Grundlagenforschung ist spannend, siehe die Braunbären
Viele zurückliegende Grundlagenforschungspreise wurden für die Aufklärung von Entstehungsmechanismen für Krankheiten im weitesten Sinne vergeben. Das gilt für das unkontrollierte Wachstum von Krebszellen, die Wirkungsweise von spezifischen Substanzen (Agonisten oder Antagonisten) auf Zellrezeptoren, Störungen des zellulären Elektrolyttransportes, die Regulation des Blutgefäßwachstums oder auch für regenerative Therapieansätze bei schwerer Herzinsuffizienz durch im Reagenzglas gezüchtete Herzmuskelzellen. Ein aktuelles Beispiel sei nachfolgend genannt:
Im vergangenen Jahr gewann ein Forscherteam um Priv.-Doz. Dr. Tobias Petzold von der Medizinischen Klinik und Poliklinik I des LMU Klinikums München den Galenus-von-Pergamon-Grundlagenforschungspreis für die Entdeckung eines Mechanismus, der Thrombosen bei Menschen, die längere Zeit immobil sind, verhindern könnte. Längere Zug- oder Flugreisen sind ein wesentlicher und bekannter Risikofaktor für Thrombosen oder Thromboembolien (z. B. Lungenembolien). Das Münchner Forschungsteam ging der Frage nach, warum winterruhende oder -schlafende Bären sowie chronisch gelähmte Menschen nicht an derartigen lebensbedrohenden Komplikationen leiden.
Dazu hatten sie 13 Braunbären, die im Rahmen eines anderen schwedischen Wissenschaftsprojekts GPS-Sender trugen und während der Winterruhe und der sich anschließenden Aktivitätsperiode im Sommer mehrfach Blut abgenommen und dieses genau untersucht. Sie fanden heraus, dass die Thrombozyten (Blutplättchen) der Tiere im Winter einen veränderten Phänotyp aufwiesen. Ein sogenanntes Hitzeschockprotein (konkret HSP47) auf den Plättchenmembranen ist während der Winterruhe bis zu 55-fach herunterreguliert. Diese Veränderung reduziert die Interaktionen zwischen Blutplättchen und den Zellen des Immunsystems und verhindert so die Entstehung von Blutgerinnseln. In sich anschließenden Untersuchungen wurden die beim Bären gewonnenen Erkenntnisse in Mäusen und im Menschen bestätigt. Diese Erkenntnisse können nun helfen, neue und weniger belastende Medikamente zur Vorbeugung von Thrombosen zu entwickeln und aktuell im Einsatz befindliche zu ersetzen.
Eine Auszeichnung kann Prozesse beschleunigen
Im Jahre 2020 erhielten Prof. Strupp und sein Forschungsteam, zufällig auch von der Universität München, den Galenus-von-Pergamon-Grundlagenforschungspreis. Sie entwickelten ein neues Therapieprinzip für bislang kaum oder nicht therapierbare, seltene lysosomale Speicherkrankheiten. Vor allem Kinder sind davon betroffen, die unter anderem an schweren Bewegungsstörungen leiden.
2024 konnte Strupp zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Oxford, Bern und anderen Zentren in einer internationalen randomisierten klinischen Studie die erfolgreiche Behandlung mit Acetyl-LLeucin als Prüfmedikament in einer Studie mitteilen. Die Zeit von der Entscheidung der Jury hinsichtlich einer wegweisenden Forschung bis zum Abschluss einer beweisenden klinischen Prüfung war in diesem Fall – wohl auch wegen der Bedeutung für leidende Kinder – erfreulich kurz.
Galenus-von-Pergamon-Preis aktuell
Um den Grundlagenforschungspreis 2024, der am 17. Oktober verliehen wurde, bewarben sich Forschende aus dem Helmholtz-Institut Saarbrücken und dem Helmholtz-Zentrum München sowie aus den Universitäten Essen, vom Klinikum der Universität München und der Charité –Universitätsmedizin Berlin mit innovativen Forschungsarbeiten in der Infektiologie, der Krebsforschung, der antientzündlichen Wirkung von Glukokortikoiden und des programmierten Zelltodes. Die vorgelegten Forschungsberichte sind nicht nur spannend zu lesen, sondern eröffnen neue Sichtweisen auf normale und krankhafte zelluläre und molekulare Abläufe im menschlichen Stoffwechsel. Damit gibt es auch für dieses Jahr wieder höchst innovative Forschungsleistungen, die des Galenus-Preises würdig sind. Allen Forschungsgruppen – insbesondere der Gewinner-Forschungsgruppe – ist öffentliche Aufmerksamkeit gewünscht.
Keine Zukunft ohne Grundlagenforschung
Grundlagenforschung dient primär dem Erkenntnisgewinn, auch wenn sie natürlich auf einem bestimmten Gebiet wie zum Beispiel dem der Zellteilung oder der Infektabwehr stattfindet. Man möchte wissen, wie die Mechanismen funktionieren und an welcher Stelle sie gestört sind. Kennt man die Funktionswege, können sie zumeist auch experimentell beeinflusst werden. Der Weg zur erfolgreichen Intervention ist dann (mit viel Arbeit und etwas Glück) eingeschlagen. Wie weit er ganz praktisch noch vom Ziel entfernt ist, ist oft nicht vorhersehbar. Dabei sollten wir aber nie vergessen, dass viele, wenn nicht die meisten hilfreichen Medikamente nicht gezielt gefunden, sondern quasi als „Beiprodukte“ fleißiger und aufmerksamer allgemeiner Grundlagenforschung erkannt wurden. Daher gilt: Die Forschung an sich ist der Schlüssel zum Erfolg!
Artikel aus dem Handelsblatt Journal How to future Health vom 05.11.2024