DIE CHANCE DER GAME CHANGER

Kompetenzschärfung und Prozessorientierung als Zukunftsmodell für die Gesundheitsberufe

Noch nie standen Pflegerinnen und Pfleger aus den Krankenhäusern überall im Land, ob im ländlichen Raum oder in Ballungszentren, so im Fokus der zivilgesellschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit wie in den letzten anderthalb Jahren. Die COVID-19-Pandemie hat ihnen viel abverlangt, oft bis an Belastungsgrenzen – eine anstrengende Zeit. Jenseits der aktuellen pandemischen Lage liegt vor dem Berufsstand eine ebenfalls fordernde Phase, denn der Beruf ist im fundamentalen Wandel begriffen. Der Dienst am Menschen wird immer im Zentrum stehen, Strukturen und Abläufe müssen sich ändern. Wir müssen sie ändern – dann haben Pflegekräfte die Chance, zum Game Changer zu werden.

Wo stehen wir heute?
Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts wird die Zahl der Menschen über 60 bis zum Jahr 2035 um über 20 % steigen. Das heißt, es kommen 40 Rentner auf 100 Menschen im erwerbstätigen Alter. Heute sind es rund 30. Immer mehr alte Menschen müssen also von immer weniger erwerbstätigen Menschen versorgt werden. Allein in der stationären Pflege fehlen heute bereits 220.000 Pflegekräfte. Bis 2035 sind es 300.000.

Der demografische Wandel trifft dabei die auf Hochleistungsmedizin, Forschung und Lehre ausgerichteten Organisationen wie die Charité doppelt hart: Als Universitätskliniken versorgen sie Menschen mit hochkomplexen Krankheitsbildern und der diesbezügliche Bedarf steigt, während die Zahl der spezialisierten pflegerischen und ärztlichen Mitarbeitenden nicht mit ansteigt. Die Diskussionen um den Wertbeitrag der Universitätskliniken der vergangenen Jahre zeigt, wie wichtig eine verlässlich hohe Qualität in den Tätigkeitsfeldern der Universitätsmedizin ist, und welchen Stellenwert sie in einem sich durch Globalisierung, Klimawandel, Wissensvolatilität und Digitalisierung wandelnden Umfeld hat. Einer der wichtigsten und zugleich wackeligsten Pfeiler in diesem Bereich ist die Pflege. Das haben die jüngsten Streiks und Bewegungen gerade erst wieder gezeigt.

Verstärkt wird der Mangel an Pflegekräften weiter dadurch, dass den Berufen im Gesundheitswesen pauschal ein negatives Image zugeordnet wird. Erstens wird oft von mangelhafter Vergütung, schlechten Arbeitsbedingungen und wenig Wertschätzung gesprochen. Zweitens findet keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten im pflegerischen Bereich statt. So wird beispielsweise die Altenpflege, in der die Rahmenbedingungen sicherlich unter den genannten Aspekten am schlechtesten sind, in den gleichen Topf geworfen wie hoch qualifizierte Intensivpflege an Universitätskliniken in multiprofessionellen Teams. Aber es gibt natürlich auch berechtigte Kritikpunkte. Zum Beispiel ein pervertiertes Zeitarbeitssystem, in dem Leiharbeitnehmende privilegiert sind, weil sie sich bei bester Vergütung individuelle Arbeitszeiten heraussuchen können, obwohl sie oft weder gut eingearbeitet noch besonders teamkompatibel sind. Das verschiebt die Machtverhältnisse des Arbeitsmarktes weiter und schreckt neue Pflegekräfte ab.

Hinzu kommt die Unübersichtlichkeit im Mikrosystem Krankenhaus. Verschiedenste Berufe arbeiten in der Versorgung der Patienten zusammen, oft sind die Grenzen zwischen ihren Kompetenzen im Alltag fließend. Es besteht teilweise zwischen oder innerhalb der Berufsgruppen keine Kenntnis über das Profil der jeweils anderen Gruppe. Die Arbeitgeber verfügen nicht über aktuelle Ausbildungsstände ihrer Mitarbeitenden, kennen deren Weiterbildungsstände, ihre Interessen und Bedarfe meist nicht. Die Personalabteilungen verzweifeln am Suchen und Nachtragen all dieser Informationen. Gleichzeitig limitieren gesetzliche Vorgaben, die nicht mit den Entwicklungen der Zeit Schritt halten, die Zusammenarbeit in den Teams. Ein Irrsinn!

Ganz zu schweigen davon, dass die Digitalisierung im Pflegebereich bislang weitestgehend nicht mit Verve vorangetrieben wurde, obwohl sie einen Grundpfeiler für die Lösung der oben genannten Probleme darstellt. Daten des Patienten müssen dadurch mehrfach erhoben werden, Behandlungsabläufe greifen nicht ineinander, Zuständigkeiten sind ungeklärt und es besteht eine Kompetenzdiffusion. All das macht Menschen unzufrieden, die in diesem Prozess arbeiten, und in der Folge natürlich auch die Patientinnen und Patienten.

Was folgt daraus?
Die verschiedenen Berufsgruppen in den Kliniken müssen im Miteinander neu aufgestellt und organisiert werden. Massive Investitionen in Aus- und Weiterbildung und in technische Innovation und Infrastrukturen werden den Prozess begleiten müssen. Um evidenzbasierte, personenzentrierte Versorgung auch vor den gerade geschilderten Herausforderungen in Zukunft anbieten zu können, bedarf es hinsichtlich der Personalaufstellung eines ganzheitlichen, systemischen Ansatzes.

Konkret bedeutet das: Eine Transparenz über alle Kompetenzen im Team ist unerlässlich, um die Aufgabenvielfalt der Zukunft bewältigen zu können. Methoden, die im Rahmen von Digitalisierung erfolgreich eingesetzt werden, müssen auch auf diesen Bereich übertragen werden, um erfolgreich zu sein. Vieles, was das Leben erleichtert, wird über entsprechende digitale Instrumente heute von den Menschen selbst und damit interessengerecht und schnell erledigt. In den multidiszimultidisziplinären Teams der Universitätskliniken braucht es dazu Rollen- und Kompetenzklärung, um die Versorgung der Kranken der Zukunft gut gewährleisten zu können. Dann wechseln Patientinnen und Patienten mit komplexen Krankheitsbildern Stationen im Haus, Medizinerinnen und Mediziner verschiedenster Fachrichtungen, Pflegefachkräfte unterschiedlichster Spezialisierung und administrative Mitarbeitende aus verschiedensten Bereichen kümmern sich verknüpft um sie. Dadurch entstehen unzählige Schnittstellen, der Bedarf an guter  Kommunikation zwischen allen Beteiligten wächst.

Aber nicht nur die Transparenz ist zwingend erforderlich, Tätigkeitsfelder werden auch neu sortiert werden müssen. So sind Aufgaben, die mit administrativem Hintergrund zu erledigen sind und der Dokumentation dienen, in fast allen Berufsbildern enthalten. Sie erfordern – je nach Art der Aufgabe – oft nur ein medizinisches Basiswissen, jedoch hohe Kompetenzen aus kaufmännischen Berufsbildern. Identifiziert man zum Beispiel diese Tätigkeiten und klassifiziert sie danach, von welchem Kompetenzspektrum sie bearbeitet werden müssen, wird sich schnell zeigen, dass aus den Mangelberufen Aufgaben herausgenommen, von anderen Berufsträgern erledigt, und oft auch durch Digitalisierung aufwandsärmer gestaltet werden können. Gleiches gilt für unterstützende Logistikprozesse, die in Kliniken einen großen Zeitanteil des Fachpersonals beanspruchen. Deren Organisation und Durchführung kann in vielen – wenn auch nicht in allen – Fällen gut an medizinfremdes Fachpersonal gegeben werden. Welchen Unterschied könnte zum Beispiel ein Fachlagerlogistiker von Amazon und Co. an den Schnittstellen OP-Saal, Krankenhausapotheke, Lagerbestand und Einkauf machen!

Aber auch zwischen den Gesundheitsberufen kann einiges neu geordnet werden. Pflegeberufe werden zunehmend akademisch aufgestellt, auch wir haben an der Charité damit begonnen. Den  Bachelorstudiengang Pflege gibt es bei uns bereits, die Hebammenwissenschaft folgt in diesen Tagen – und hoffentlich zeigt sich diese Entwicklung in Zukunft auch in den Funktionsbereichen wie der OP- und Anästhesiepflegefachkräfte. Mit zunehmendem Bildungsgrad aller Berufsgruppen entstehen auch neue Möglichkeiten der Arbeitsteilung und damit die Chance einer besseren Verteilung der knappen Ressourcen.

Was jetzt gelingen muss
Diese Veränderungsprozesse müssen wir gemeinsam gestalten, Arbeitgeber und Arbeitnehmende. Wir haben in einer zu Beginn schwierigen Tarifauseinandersetzung an der Charité gerade gezeigt, wie man zusammen mit der Gewerkschaft zu pragmatischen und realistischen Lösungen kommen kann, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlasten, lebensphasen- und familienfreundliche Individualität zu fördern, Ausbildung attraktiver zu machen und zu stärken sowie ein attraktives Entlastungssystem aufzubauen und transparent abzubilden.

Gelingt es uns, all diese immensen Herausforderungen zu meistern und damit das Zusammenspiel der an der Versorgung der Menschen Beteiligten auch qualitativ zu verbessern, gelingt es uns auch, die Berufe in den Kliniken auf allen Ebenen spannender und attraktiver zu machen. Wer voll und ganz im Rahmen seines Kompetenzspektrums arbeiten kann, wer im Team mit seinem Fachbeitrag Wertschätzung und Anerkennung erfährt, der bleibt gerne im Beruf und spricht positiv darüber. Auch und gerade in der Pflege. Denn dann empfindet sich der dort arbeitende Mensch so, wie ihn der britische Streetart-Künstler Banksy sehr richtig dargestellt hat: als Game Changer.

Der Dienst am Menschen wird immer im Zentrum stehen, Strukturen und Abläufe müssen wir ändern.

Carla Eysel
Vorstand Personal und Pflege
Charité – Universitätsmedizin Berlin

Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „HEALTH“ erschienen.

Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
Zum Journal