Das merkwürdige Verhältnis der Immobilienwirtschaft zur Nachhaltigkeit

Es rührt sich etwas in weiten Teilen der Immobilienwirtschaft. Es scheint, als würden die drei Buchstaben ESG dafür sorgen, dass die Branche das Thema Nachhaltigkeit neu für sich entdeckt. Wieder einmal. Dass plötzlich ökologische, soziale und Governance-Faktoren eine größere Rolle bei Investitionsentscheidungen spielen sollen, ist zweifellos begrüßungswert. Dass dies als das nächste große Thema im Sektor behandelt wird, mutet allerdings etwas befremdlich an. Denn es ist zum einen längst überfällig und zum anderen wahrlich nichts Neues.

Statt Gestalter einer positiven, lebenswerten Zukunft zu sein, hat sich die Branche bislang weitgehend nur unmittelbar gewinnbringende Kosten-Ertrag-Rechnungen als Maßstab gesetzt. Ein gutes, deprimierendes Beispiel für eine solche Haltung lieferten kürzlich die Aktionäre von alstria. Den Vorschlag des Unternehmens, ein Cent der Dividende von 53 Cent pro Aktie einzubehalten, um dieses Geld in die CO2-Reduktion zu investieren, wurde abgelehnt.

Jetzt also ESG. Dazu die neuen EU-Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem neuen Klassifizierungssystem „Taxonomie“. Und plötzlich geht etwas?! Scheinbar braucht es diesen Zwang oder immer wieder eine neue Überschrift. Natürlich gibt es einige Marktteilnehmer, die schon seit Jahren mit positivem Beispiel vorweg gehen und erkannt haben, dass sich Investitionen in Nachhaltigkeit schnell amortisieren. Dass alle davon profitieren, sofern Gebäude nicht als begehbare Spekulationsobjekte verstanden werden. Wenn ich bereits beim Bau selbst auf eine ganzheitliche Qualität und Zukunftsfähigkeit achte, lässt sich die Immobilie später auch optimal und kosteneffizient betreiben. Allzu frühe Kosten für Umrüstungen und Sanierungen im Laufe des Gebäudelebenszyklus werden vermieden. Außerdem werden Risiken, zum Beispiel durch mögliche Schadstoffbelastungen, deutlich minimiert oder ganz ausgeschlossen.

Gebäude als fortlaufenden Prozess verstehen
Planung, Bau und Betrieb: Auf diesen Dreiklang kommt es an. Einerseits braucht es eine gut durchdachte, auf die Nutzungsanforderungen abgestimmte Planung. Dazu eine qualitativ hochwertige Umsetzung. Für beides gibt es mit den speziell auf Neubauten oder Sanierungen ausgerichteten Zertifizierungssystemen bereits lang etablierte Planungs- und Optimierungstools am Markt, die die erreichte Nachhaltigkeitsqualität nachweisbar machen.

Damit werden aber lediglich die Voraussetzungen geschaffen, dass ein Gebäude in seinem Betrieb auch nachhaltig ist. Es ist essenziell, genau hinzuschauen, ob die in der Planung gerechneten Kennwerte, etwa beim Energieverbrauch, tatsächlich auch erreicht werden. Daraus müssen dann die richtigen Schlüsse gezogen und über ein fortlaufendes Monitoring ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess etabliert werden. Das Gebäude zu verstehen, Schwachstellen zu erkennen und systematisch zu verbessern: All das trägt dazu bei, von einer nachhaltigen Immobilie wirklich zu profitieren. Und auch hierfür gibt es bereits ein Tool: das DGNB System für Gebäude im Betrieb.

Es ist essenziell, genau hinzuschauen, ob die in der Planung gerechneten Kennwerte, etwa beim Energieverbrauch, tatsächlich auch erreicht werden.

Gebäude im Betrieb systematisch Richtung Klimaneutralität führen
Dieses ist ein unabhängig entwickeltes und praxiserprobtes Management- und Transformationsinstrument zur Entwicklung einer nachhaltigen, zukunftsfähigen und auf Klimaschutz ausgelegten Immobilienstrategie. Übergeordnetes Ziel der Zertifizierung ist es, Gebäuden systematisch den Weg in die Klimaneutralität zu ebnen. Ein Instrument, das hierfür zum Einsatz kommt, ist ein gebäudeindividueller Klimaschutzfahrplan. Bei der drei Jahre gültigen Zertifizierung sind lediglich neun Kriterien zu beachten, sodass sie im Hinblick auf Aufwand und Kosten deutlich schlanker ist als eine Neubauzertifizierung.

Die Betriebszertifizierung der DGNB ist nutzungsunabhängig bei allen Gebäudetypen anwendbar und nicht nur für Eigentümer oder Betreiber einzelner Gebäude interessant. Auch für Bestandshalter wie Wohnungswirtschaft oder Kommunen ist sie geeignet, weil sie die  Investitionssicherheit stärkt, eine Vergleichbarkeit zwischen einzelnen Gebäuden ermöglicht und im Bereich des Portfoliomanagements eingesetzt werden kann. Die Inhalte in Form der Kriterien sind frei verfügbar und können kostenfrei verwendet werden. Möchte man die unabhängige Qualitätssicherung in Form einer Zertifizierung, fallen die entsprechenden Gebühren für die Prüfung der eingereichten Unterlagen an.

Zeit und Geld für die richtigen Dinge investieren
Zum Abschluss noch ein Kommentar zur bisherigen Rolle des Sektors in der Nachhaltigkeitsdebatte: Mit großer Kreativität haben viele Immobilienakteure bislang nach Gründen gesucht, warum etwas pro Nachhaltigkeit nicht geht. Oftmals waren dies Akteure, die sich als Experten positionieren, ohne selbst nachweislich Erfahrungen im nachhaltigen Bauen gemacht zu haben. Anstatt dies kritisch zu hinterfragen und Argumente auf ihre inhaltliche Grundlage zu überprüfen, scheint die gängige Praxis eine andere zu sein. Je vehementer eine Behauptung vorgetragen wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass diese auch geglaubt und weitergetragen wird – so der ernüchternde Eindruck. Good Governance? Eher nicht. Ob das neue Gewand „ESG“ bei einer solchen Grundhaltung wirklich weiterhelfen kann, bleibt zweifelhaft.

Nicht auszudenken außerdem, wo wir in der Immobilienwirtschaft in Sachen Nachhaltigkeit stehen könnten, wenn Zeit und Geld nicht in den x-ten neuen Arbeitskreis und dessen Begleitung durch teure externe Berater geflossen wären, sondern in die Umsetzung nachhaltiger Bauprojekte. Wenn man sich aktiv mit den in Betrieb genommenen Projekten auseinandergesetzt und von ihnen gelernt hätte. Dann stünde der Gebäudesektor mit Blick auf die Klimaziele heute mit Sicherheit schon deutlich besser da.

Zukunftsgestalter dringend gebraucht
Deshalb: Bitte, liebe Vertreter der Immobilienwirtschaft, hört auf, das Rad immer wieder neu erfinden zu wollen. Und klassifiziert die Themen der Nachhaltigkeit nicht als reines Marketingmerkmal. Nutzt, was vorhanden und praxiserprobt ist, und zieht an einem Strang. In Sinne des Klimaschutzes ist schon viel zu viel Zeit verloren worden, die wir eigentlich nicht mehr haben. Nachhaltigkeit ist kein Hexenwerk und klimapositive Gebäude sind heute schon möglich.

Die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind zu wichtig, als dass man sie nicht transparent und messbar macht. Der Raum für Eigenerklärungen im Sinne von „wir machen das alles schon“ existiert doch einfach nicht. Es schwächt Euch und die Sache nur. Also legt los! Zeigt, dass Ihr echte Gestalter und damit Teamplayer für eine lebenswerte und nachhaltige Welt sein könnt!

Die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind zu wichtig, als dass man sie nicht transparent und messbar macht.

Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Immobilienwirtschaft“ erschienen.

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