Zeitenwende 2024: Wie Deutschland wieder wehrhaft wird

Artikel aus dem Handelsblatt Journal Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie vom 16.2.2024

In Europa herrscht seit fast zwei Jahren Krieg. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat unvorstellbares Leid und furchtbare Zerstörung verursacht. Er hat zudem eines mehr als deutlich gemacht: Die alte Welt gibt es nicht mehr, wir sind in einer neuen Zeit. Einer Zeit, in der Krieg für Menschen in der Mitte Europas wieder zu einer ernstzunehmenden Bedrohung geworden ist. Und mit dem Blick auf 2024 muss ich leider sagen: Die Lage ist sehr ernst. Der Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr, im Nahen Osten droht ein Flächenbrand, die Spannungen zwischen Taiwan und China nehmen zu und es brodelt in vielen weiteren Regionen dieser Welt. Ich kann nicht erkennen, dass das schnell wieder vorbei ist.

Wir haben aktuell nicht nur diverse Konfliktherde, wir laufen in einen globalen Systemkonflikt: Die regelbasierte, freiheitliche westliche Ordnung auf der einen und autokratische Systeme auf der anderen Seite. Dazu der globale Süden, der von beiden Seiten umworben wird. Wir haben es inzwischen mit einer multipolaren Weltordnung zu tun, die die Gefahr von Krisen und Konflikten enorm erhöht hat.

Können wir noch Krieg?
Man kann also nicht erwarten, dass sich die geopolitische Großwetterlage schnell wieder beruhigt. Wir alle müssen uns mit der veränderten internationalen und geopolitischen Situation ernsthaft beschäftigen. Schließlich geht es darum, für uns heute sowie gleichzeitig für kommende Generationen Sicherheit als Grundlage von Freiheit und Wohlstand zu erhalten. Wir wollen die Art, wie wir heute leben, auch zukünftig erhalten. Unsere Lebensweise ist jedoch inzwischen gefährdet. Vor allem müssen wir lernen, mit dieser sehr diffusen Situation umzugehen.

Der Westen braucht jetzt glaubwürdige Abschreckung, die Gewissheit, dass man uns nicht überfallen kann. Das wird nicht einfach werden. Die notwendigen Anpassungen an die neue geopolitische Lage werden viel Geld kosten. Kern der Diskussion um Abschreckung ist die Frage, ob wir in Deutschland als Teil von NATO und EU im Verteidigungsfall gegen einen gleichwertigen staatlichen Gegner siegfähig sind. Ich bin der Meinung, dass wir das aktuell nicht sind. Deutschland ist momentan nicht in der Lage, unser Land und unsere Bündnispartner in allen Dimensionen und über eine längere Dauer zu verteidigen. Mit anderen Worten: Deutschland ist derzeit nicht wehrhaft.

Daher finde ich es gut, dass Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sein Vokabular der Realität anpasst. Ich interpretiere ihn so: Es gibt eine Kriegsgefahr und die muss von der gesamten Gesellschaft erkannt werden, um letztlich durch glaubwürdige Abschreckung auch in Zukunft Sicherheit zu gewährleisten.

Demokratie muss sich verteidigen können
Wir müssen neben der Fähigkeit der Krisenbewältigung der letzten 30 Jahre auch unsere Aufgaben zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen können. Wir müssen nicht nur in der Lage sein, einen Krieg zu führen, sondern einen solchen auch gewinnen zu können.

Pistorius’ Aussage zur Kriegstüchtigkeit sowie die Entscheidungen für eine Verdoppelung der Ukrainehilfe Ende 2023 machen mich zuversichtlich, dass der Ernst der Lage erkannt wurde. Die Politik muss jetzt konsequent danach handeln. Nur so sind wir in der Lage, unsere Demokratie zu schützen. Zur Verteidigung durch Streitkräfte gehört jedoch eine entsprechende Ausstattung, die viel Geld kosten wird. Diese neue Realität muss in der Gesellschaft ankommen und verstanden werden. Die Zeitenwende muss auch in den Köpfen der Bürger ankommen. Nur so wird es gelingen, die nötigen Mittel für die Ertüchtigung der Bundeswehr zu beschaffen.

Auch wenn wir nicht auf das Rüstungsniveau des Kalten Kriegs zurückfallen müssen, eines ist klar: Was die Bundeswehr heute an Ausrüstung, Reserven und Vorräten hat, reicht für eine glaubwürdige Abschreckung bei weitem nicht. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist in Europa der erste systemisch geführte Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Westen braucht für eine wirksame Abschreckung und vor allem für die weitere Unterstützung der Ukraine viel mehr industrielle Kapazität. Die Industrie hat sich auf den Weg gemacht. Alle Unternehmen, die ich kenne, haben bereits nach Kräften ihre Kapazitäten hochgefahren, Personal aufgebaut und ihre Lieferketten stabilisiert. Dies im Wesentlichen auf eigene Kosten und mit dem damit verbundenen unternehmerischen Risiko.

Nicht abhängig machen von anderen
Unsere Industrie kann und wird ihre Kapazitäten deutlich erweiterten, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Hierbei sind insbesondere langfristige Planungssicherheit, verbindliche Aufträge und Zahlungspläne zu nennen, die den Kapazitätsaufbau absichern. Die deutsche Verteidigungsindustrie verfügt über zahlreiche marktverfügbare Produkte und Lösungen, die helfen, die Ausrüstungslücken der Bundeswehr zügig zu schließen. Die Souveränität in Deutschland bedingt, dass wir uns nicht abhängig machen von anderen. Wir haben eine hervorragende und leistungsfähige Verteidigungsindustrie, die Vorrang bei Vergabeentscheidungen haben sollte. Die Bundeswehr hat jedoch auch Lücken, die nicht sofort von der heimischen Industrie geschlossen werden können. Natürlich schmerzt es uns alle, wenn wir im Ausland kaufen. Jedoch sollten wir dann auch Arbeitspakete an ausländischen Rüstungsgütern konsequent für unsere heimischen Hersteller einfordern. Zudem wäre es grundsätzlich sinnvoll, dass im Ausland gekaufte Rüstungsgüter in Deutschland gewartet werden Bereits deutlich erkennbar ist, dass die 100 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen nicht ausreichen, um die vom Verteidigungsminister geforderte Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr herzustellen. Wichtig ist, dass Deutschland schnell und nachhaltig das 2%-Ziel der NATO erfüllt. Angesichts der Ausstattungslücken der Bundeswehr und der dringenden Bedarfe der Ukraine haben wir keine Zeit zu verlieren und müssen jetzt die Prioritäten im Bundeshaushalt richtig setzen.

Pragmatismus ist nötig
Wir erleben gerade in geopolitisch schwierigen Zeiten wie heute, wie wertvoll unsere Bündnisse sind. Deutschland hat daher ein unmittelbares Interesse daran, sich als verlässlicher Bündnispartner zu positionieren. Das gilt auch für rüstungsindustrielle Zusammenarbeit auf europäischer Ebene und mit unseren Bündnispartnern. Gemeinsame Standards in Europa sind der Schlüssel für mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit in Beschaffung und Nutzung. Gemeinsame europäische Programme werden nur eine Chance haben, wenn wir uns in Europa auf eine gemeinsame politische Linie bei Exporten verständigen. Hier wird sich Deutschland bewegen müssen.

Die Faktenlage ist allen Beteiligten in Politik und Industrie bekannt. Das Gebot der Stunde heißt Pragmatismus – zupacken und umsetzen! ■

Was die Bundeswehr heute an Ausrüstung, Reserven und Vorräten hat, reicht für eine glaubwürdige Abschreckung bei weitem nicht.

Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
Zum Journal