Wir brauchen Ehrlichkeit, Fokus und Pragmatismus

Artikel aus dem Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ vom 23.01.2024

Bisher hieß es: „Wir können uns Investitionen in die Energiewende problemlos leisten. Denn wegen der billigen erneuerbaren Energie werden wir langfristig wettbewerbsfähiger und können zusätzlich Zukunftsindustrien aufbauen, die unseren Wohlstand sichern.“ Doch mittlerweile sieht die Realität ganz anders aus. Lahmende Konjunktur, sinkende Industrieproduktion – Deutschland verliert an Wettbewerbsfähigkeit, die Gefahr der Deindustrialisierung ist real.

Volkswirtschaftlich sehen wir in den nächsten Jahren massiv steigende Infrastrukturinvestitionen, um die Energienetze energiewendetauglich zu machen. Investitionskosten werden gleichzeitig durch sprunghaft erhöhte Kapitalkosten weiter nach oben getrieben. Und die Integration von immer mehr Erneuerbaren treibt auch die Systemkosten nach oben, zum Beispiel für die Stabilisierung durch Speicher. Der Ukraine-Krieg hat zudem einen erheblichen Anstieg der aktuellen Beschaffungskosten für Strom und Gas bedingt.

Die erste Prämisse für die kommenden Jahren ist daher Ehrlichkeit: Das positive Narrativ eines vergleichsweisen schmerzlosen Übergangs ohne die Gefahr von Wohlstandsverlusten ist Geschichte. Umso wichtiger ist es, jetzt voll auf das zu fokussieren, was wesentlich ist.

Fokussierung auf die wesentlichen staatlichen Aufgaben

Damit uns die Transformation in der angespannten Weltlage gelingt, sollte der Staat sich auf notwendige Aufgaben fokussieren. Viele Bürger fühlen sich bevormundet, weil der Staat ihren Alltag bis ins Kleinste regelt. Die Diskussion über das Heizungsgesetz war ein neuer Höhepunkt dieser Entfremdung. An anderer Stelle – äußere und innere Sicherheit, Cybersicherheit, Verteidigung unserer Werte – wo der Staat der einzige Akteur ist, der sichtbar und zupackend auftreten kann, da wo der „starke“ Staat von den Menschen herbeigesehnt wird, hat er sich immer mehr zurückgezogen. Ich plädiere dafür, den Fokus auf diese Domänen des Staates zu legen.

Das gilt auch für die Staatsausgaben: Sich mit konsumtiven Ausgaben aus Krisen und Stagnation „herauskaufen“ zu wollen, birgt die Gefahr, dass Menschen sich dauerhaft vom Staat alimentieren lassen. Wo bleiben die Anreize, es aus eigener Kraft zu schaffen, durch Ehrgeiz und Leistung? Aus meiner Sicht sollte der Staat auf investive Aufgaben fokussieren, um den Menschen in diesem Land einen selbstbestimmten Weg zum Wohlstand zu ebnen.

Pragmatismus bei der Gesetzgebung

In einer polarisierten politischen Debatte muss der Gesetzgeber pragmatischer handeln. Dazu ein paar Leitgedanken:

„Geschwindigkeit zählt“. Beispiel: Wir haben in Europa lange über die Definition von grünem Wasserstoff gerungen, bis wir eine perfekte Definition hatten. Jetzt wissen wir, was wir im Idealzustand gerne hätten. Ich sehe aber keine liquiden Märkte für H2 weit und breit. Vielleicht hätten wir besser erst Fahrt aufgenommen und den Markt später perfekt gemacht. Also: „80:20 und schnell“ ist mehr wert als „perfekt und nie“.

„Einfachheit ist ein Wert für sich“. Das erste EEG etwa hatte nur vier Seiten und 12 Paragraphen. Heute umfasst das Gesetz 171 Paragraphen auf 128 Seiten. Wir sollten daher zu abstrakten Rechtsnormen zurückkehren und auf zu detaillierte und nicht mehr handhabbare Einzelfall-Regelungen verzichten.

„Digitalisierung immer mitdenken“. Die umfassende Smartifizierung unserer Infrastruktur ist ein entscheidender Hebel zur Optimierung unseres Energiesystems. Doch wir sind – vor allem in Deutschland – bei Digitalisierungsthemen stark angstgetrieben und detailverliebt: Während Deutschland die wohl sichersten Transportboxen für Smart Meter hat, sind wir beim Einbau europaweit Schlusslicht. Es hapert also schon Grundvoraussetzungen für den Systemwechsel. Doch das dezentrale Energiesystem steuert man nicht mehr per Hand; die Energiewende ist längst eine Digitalisierungsaufgabe, die wir auch endlich als solche angehen müssen.

„Weniger ist mehr“. Wir sollten stärker priorisieren, wozu wir wirklich neue Regelungen brauchen. Wenn alles wichtig ist, dann ist in Wahrheit nichts wichtig.

Fazit: Deutschland sollte sein quasi-planwirtschaftliches Mikromanagement durch Gesetzgebung aufgeben – zugunsten von Technologieoffenheit, indirekter Steuerung und Markt. Denn mit der aktuellen Regelungswut lähmen wir uns und verschenken ökonomisches Potenzial, wir verlieren weiter an Innovationskraft. Stattdessen brauchen wir jetzt Ehrlichkeit, Fokus und Pragmatismus. Wir müssen uns mächtig strecken, damit es fürs erste vielleicht nicht sehr gut, doch zumindest mal wieder gut wird.

Damit uns die Transformation in der angespannten Weltlage gelingt, sollte der Staat sich auf notwendige Aufgaben fokussieren.

Dr. Leonhard BirnbaumCEO, E.ON SE
Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Energiewirtschaft“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
Zum Journal