Wie viel Kraft steckt tatsächlich hinter der Zeitenwende?

Artikel aus dem Handelsblatt Journal Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie vom 16.2.2024

Ein Bericht von der Handelsblatt Konferenz „Sicherheit und Verteidigung 2024“

Sicherheit und Verteidigung – kaum ein Themengebiet erhält derzeit so viel Aufmerksamkeit wie dieses. Nach Jahrzehnten des Friedens in Europa wirken der russische Angriff auf die Ukraine sowie der Angriff der Hamas auf Israel wie ein Weckruf. Bereits die Zeitenwende-Rede von Kanzler Olaf Scholz machte klar, dass es sich hierbei auch für Deutschland um eine Zäsur handelt. Doch sind seit dieser Rede mittlerweile fast zwei Jahre vergangen und so stellt sich die Frage, was sich seitdem getan hat und was noch getan werden muss. Die Erwartungen der rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Handelsblatt Konferenz am 30. und 31. Januar waren daher hoch, Antworten auf die drängendsten Fragen zur europäischen Sicherheit zu erhalten.

Wie schon im Jahr zuvor reichte das Themenspektrum vom Weltraum über den Rüstungsstandort Deutschland bis hin zur Rolle der Gesellschaft in einer von Krisen geprägten Zeit. Über allen Diskussionen lag ein Gefühl von Dringlichkeit, denn in vielen Bereichen hat die Zeitenwende wichtige Prozesse angestoßen. Doch dabei kommt es vor allem auch auf das Tempo an, welches vielerorts noch verbessert werden kann. Viele Diskussionen zeigten: Ohne einen umfassenden Bewusstseinswandel in allen Schichten der Gesellschaft wird es keine wehrhafte Zivilgesellschaft geben können. Zukunftstechnologien zu entwickeln, wird nur gelingen, wenn etwa Start-ups sich in einem gesellschaftlichen Umfeld bewegen können, welches die fundamentalen Veränderungen versteht und unterstützt, die mit der Zeitenwende einhergehen.

Thematisch bestimmend blieben auch der Ukraine- Krieg und die Bedeutung dieses Kriegs für Deutschland. Solidarität und das Prinzip unveränderlicher Grenzen in Europa bilden auf der einen Seite das Fundament für die deutsche Unterstützung der Ukraine. Auf der anderen Seite steht die Erkenntnis, dass es Deutschlands tiefstes nationales Interesse ist, Russland von weiteren imperialen Abenteuern zurückzuhalten. „Wenn Putin vom Schlachtfeld runtergeht und das Gefühl hat, es hat sich irgendwie gelohnt, dann wird dieser Mann nicht aufhören“, brachte es Dr. Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt, auf den Punkt.

Das Gebot der erhöhten Geschwindigkeit in Politik, Rüstung und Verwaltung

Auf die Frage, wie weit die Bundeswehr im Bereich Digitalisierung sei, zeigte sich Generalinspekteur Carsten Breuer zuversichtlich, betonte aber auch, dass es eines Zwischenschrittes bedürfe, bevor man die bisherigen Probleme wirklich überwunden habe. Aus den im Zusammenhang des Sondervermögens gesammelten Erfahrungen schloss der Generalinspekteur, „dass wir schneller werden müssen, dass wir mit einem ganzheitlicheren Blick draufschauen müssen und dass wir einfacher werden müssen“. Er verwies darauf, dass Abläufe und Organisationsstrukturen verbessert werden müssten, um dieser Probleme Herr zu werden.

Auch Thomas Hitschler, Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, machte deutlich, dass diese Thematik ganz oben auf der Tagesordnung stehe.

Beispielsweise, so Hitschler, gebe es nun im Ministerium 67 Regelungen weniger, die zuvor die Geschwindigkeit bei Beschaffungsprozessen von Rüstungsgütern bremsten. Generalleutnant Kai Ronald Rohrschneider, Abteilungsleiter Führung Streitkräfte, hob ebenfalls den Aspekt der Schnelligkeit hervor. Dabei, so Rohrschneider, sei es essenziell, die Ökonomie Deutschlands so umzugestalten, dass kriegsfähige Güter in großem Maße produziert werden können.

Einen anderen Ansatz formulierte Sven Giegold, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Unkritisch mehr Geld in Rüstungsgüter zu investieren, würde gerade in der Zivilbevölkerung Skepsis hervorrufen – und das auch zu Recht. Zwar gebe es nun eine große Akzeptanz für verstärkte Rüstungsinvestitionen, doch diese sei nicht rückhaltlos.

In eine ähnliche Richtung argumentierte Dr. Marie- Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag. Es gebe in Deutschland niemanden, der „Hurra“ schreie. Man sei sehr weit vom Hurra-Patriotismus des ersten Weltkriegs entfernt, in dem die Menschen enthusiastisch „für den Kaiser in den Krieg“ gegangen seien. Die Forderung nach der Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers sei daher keine Kriegstreiberei, sondern nüchternes Kalkül. Leider fehle der Bundesregierung schlicht der Wille, auf veränderte Lagen schnell zu reagieren und den Taurus zu liefern.

Sicherheitspolitik im Bewusstsein einer wehrhaften Gesellschaft

Krisen haben die Eigenschaft, nach einer gewissen Zeit an Aktualität zu verlieren und für weite Teile der Gesellschaft in den Hintergrund zu rücken. Das Bewusstsein der Zivilgesellschaft dafür zu schärfen, dass sich Deutschland auf langwierige Veränderungen einzustellen hat, ist damit eine wesentliche Aufgabe der Politik. Dr. Tobias Lindner (Staatsminister, Auswärtiges Amt) griff diesen Punkt auf: Auch wenn das öffentliche Bewusstsein in dieser Hinsicht vergesslich sei, müsse die Politik weiterhin ihr Möglichstes tun, um die Krise zu meistern. Insbesondere gelte das für den Ukraine-Krieg, wo es darum ginge, dauerhaft standhaft zu bleiben. „Putin spielt mit uns das Spiel, wer hat den längeren Atem, wer hält länger durch am Ende des Tages. Und das müssen wir sein.“, forderte Lindner.

In Deutschland herrsche mittlerweile das Gefühl vor, dass nichts mehr funktioniere, so Serap Güler (CDU), Mitglied im Verteidigungsausschuss im Bundestag. Dies aber sei für die Resilienz und Wehrhaftigkeit der Gesellschaft hochproblematisch. Krieg und Krisen würden dieses Gefühl nur noch potenzieren. Politik müsse bereits hier ansetzen und der Bevölkerung dieses Gefühl nehmen.

Die Zukunft der Streitkräfte: Von Satelliten bis zu KI und Drohnen

„Im Weltraum sind wir unter Bedrohung, wir haben es zum Teil nur noch nicht gemerkt“, eröffnete Generalmajor Michael Traut, Kommandeur des Weltraumkommandos der Bundeswehr, seine Ausführungen dazu, dass der Weltraum zu einer wichtigen, wenn nicht sogar der wichtigsten Dimension der Bundeswehr werde. Im Weltraum finde bereits Interaktion, in Teilen sogar ein Wettbewerb verschiedener Staaten, statt. Es komme darauf an, jetzt dafür zu sorgen, der Bundeswehr die nötigen Werkzeuge in die Hand zu geben. Das Ziel sei, im Weltraum als aktiv handelnder Akteur aufzutreten und nicht nur defensiv und passiv vorzugehen.

Vizeadmiral Dr. Thomas Daum, Inspekteur des Cyber- und Informationsraums (CIR), verwies neben dem Weltraum auf den Cyberraum als militärische Dimension. CIR und Weltraum als informationszentrische Dimensionen könnten beide nur in einem engen Zusammenspiel funktionieren, dann aber von enormer Bedeutung sein. Aus dem Weltraum bekäme man Bilder und Daten für die Aufklärung, welche die anderen traditionellen Dimensionen Land, Luft und Wasser unterstützen könnten. CIR würde den Weltraum schließlich mit anderen verbindenden Elementen ergänzen. Um Technisches kreiste auch die Diskussion rund um KI-basierte Autonomie in Waffensystemen. „Ich muss es beherrschbar machen, ich muss es nachvollziehbar, ich muss es erklärbar machen, aber ich muss so viel Autonomie in allen Systemen haben, um die Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld zu erzeugen.“ Mit dieser Aussage lenkte General Badia, Deputy Supreme Allied Commander Transformation der NATO, den Fokus auf die Schnittstelle zwischen KI und menschlicher Entscheidungshoheit. Zukunftstechnologien wie beispielsweise Drohnen können eben auch auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden. Dabei sei Autonomie aus rein strategischer Sicht von enormer Bedeutung. „Es darf in unserem Handeln nicht nur um das Hier und Jetzt gehen, es müssen auch die Anschlusspunkte für Streitkräfte in der Zukunft gedacht werden“, betonte auch Generalinspekteur Breuer und griff damit die Bedeutung der Investition in Zukunftstechnologien und deren Implementierung in die Streitkräfte auf.

Grund zur Zuversicht

Trotz der sich immer weiter ausbreitenden Krisen und Konfliktherde fiel am Ende der Konferenz der Blick in die Zukunft nicht ausschließlich pessimistisch aus. Es gebe viele Probleme, doch die Bundeswehr der Zeitenwende sei alles andere als passiv, so der Tenor der Veranstaltung. Im Gegenteil, wenn sich in Deutschland ein stärkeres Bewusstsein für die Konsequenzen des russischen Angriffs auf die Ukraine etabliere, dann befinde sich Deutschland auf einem guten und aussichtsreichen Weg, die kommenden Herausforderungen zu meistern.

jungedag

Über allen Diskussionen lag ein Gefühl von Dringlichkeit. Massenanwendungen weiterzuentwickeln.

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Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
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