Wie viel digitale Souveränität braucht Deutschland?

Die Frage nach digitaler Souveränität ist für Deutschland und Europa zu einer strategischen Dringlichkeit geworden. In einer zunehmend datengetriebenen Welt bestimmen der Zugang zu und die Kontrolle über digitale Infrastrukturen, Daten und künstliche Intelligenz nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit.

Die Herausforderung besteht nicht länger darin, ob wir an der globalen digitalen Wirtschaft teilnehmen, sondern wie wir dies tun – zu wessen Bedingungen und unter welchen Regeln.

Eines muss klar festgestellt werden: Protektionismus oder Isolationismus sind kein gangbarer Weg zu unserer technologischen Autonomie. Trotz Europas Stärke – seiner industriellen Basis, wissenschaftlichen Exzellenz und regulatorischen Weitsicht – drohen diese Stärken ohne gemeinsame digitale Infrastrukturen und vertrauenswürdige Datenökosysteme fragmentiert zu werden und sich gegen unsere eigenen Interessen zu richten.

Offenheit, Interoperabilität und Vertrauen sind die zentralen Säulen einer fairen und wettbewerbsfähigen Datenökonomie – und Gaia-X kann deutlich zeigen, wie das funktioniert.

Gaia-X und die europäische digitale Souveränität

Gaia-X zielt darauf ab, den Aufbau vertrauensbasierter digitaler Ökosysteme zu unterstützen, die Transparenz, Kontrolle und Interoperabilität über alle Ebenen der Datenökonomie hinweg gewährleisten. Dies geschieht, indem Nutzern ermöglicht wird, die Kontrolle über ihre Daten zu behalten und vertrauenswürdige Innovation zu fördern.

Was wir unter der Kontrolle über die eigenen Daten verstehen, bedeutet zunächst, dass der Nutzer eindeutig festlegen kann, wo seine Daten gespeichert werden, wer darauf zugreifen darf und unter welchen Bedingungen.

Zweitens benötigen Unternehmen, Regierungen und Forschende dringend verlässliche Daten. Verlässlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Daten sicher genutzt werden können – im Wissen, dass Sicherheits-, Compliance- und ethische Standards by design erfüllt werden. Diese Compliance by design ermöglicht nicht nur vertrauenswürdige Innovation, sondern spart auch Zeit und Ressourcen.

Gaia-X erreicht all dies durch sein Trust Framework, ein Set aus offenen, überprüfbaren Regeln, Standards und Mechanismen, die sicherstellen, dass Dienste und Teilnehmende in einem Ökosystem gemeinsame Prinzipien einhalten.

Datenräume und digitale Souveränität in Deutschland

Der praktische Ausdruck unserer Mission zeigt sich in der Entwicklung von Datenräumen – domänenspezifischen Umgebungen, in denen Daten aus verschiedenen Quellen nach vereinbarten Regeln geteilt, kombiniert und genutzt werden können.

In einem Mobilitätsdatenraum etwa können Fahrzeughersteller, Dienstleister und Kommunen Verkehrs-, Energie- und Logistikdaten sicher austauschen, um Routen zu optimieren und Emissionen zu reduzieren.

Im Gesundheitswesen können Krankenhäuser und Forschungseinrichtungen anonymisierte Patientendaten gemeinsam nutzen, um Diagnosen zu verbessern und Innovationen zu beschleunigen, ohne die Privatsphäre zu gefährden.

In der Industrie ermöglichen Datenräume eine transparentere, effizientere und widerstandsfähigere Lieferkette.

Diese Beispiele verdeutlichen die Bedeutung von Vertrauen innerhalb des Datenraums selbst. Wenn dieses Vertrauen by design aufgebaut ist, müssen Teilnehmende sich nicht mehr fragen, ob ihre Daten oder deren Nutzung mit internen, geografischen oder domänenspezifischen Regeln und Richtlinien vereinbar sind. In diesem Sinne kombiniert das Gaia-X Trust Framework Technologie und Regeln, um genau solche Umsetzungen zu ermöglichen.

Das Gaia-X Trust Framework basiert einerseits auf der Gaia-X Compliance – einem Satz von Regeln und Richtlinien, die europäischen Werten folgen, um Vertrauen, Transparenz und Interoperabilität sicherzustellen. Vier Compliance-Stufen werden verwaltet: von der Standard-Compliance bis zu den Gaia-X Labels der Stufen 1, 2 und 3. Die ersten drei Compliance-Stufen können von allen Anbietern erfüllt werden, die höchste Stufe (Gaia-X Label Stufe 3) kann jedoch nur von Anbietern erfüllt werden, die ihren Hauptsitz in Europa haben und nicht mehrheitlich durch nicht-europäische Unternehmen beeinflusst werden. Hiermit wird sichergestellt, dass Daten durch Europäer, innerhalb Europas und ausschließlich basierend auf europäischem Recht verarbeitet werden.

Andererseits stützt es das Gaia-X Trust Framework auf die Gaia-X Technical Compatibility Specifications, die die relevanten Technologien und Module beschreiben, die zum Aufbau und zur Umsetzung der Gaia-X-Compliance-Regeln erforderlich sind. Diese Module – etwa das Gaia-X Registry, der Gaia-X Notary oder die Gaia-X Compliance Engine – sind in den technischen Spezifikationen von Gaia-X beschrieben; eine lizenzkostenfreie (Open Source) Implementierung wird durch Gaia-X bereitgestellt.

Darüber hinaus ist das Gaia-X Trust Framework über ein Netzwerk von Gaia-X Digital Clearing Houses zugänglich – der Einstiegspunkt, um die Gaia-X-Compliance zu erhalten, also den Nachweis der Einhaltung der innerhalb des Frameworks definierten Regeln. Alle Gaia-X Digital Clearing Houses sind mittels Blockchain-Technologie synchronisiert, was praktisch bedeutet, dass sie jederzeit austauschbar sind.

Heute können Teilnehmende oder Organisationen bereits Lösungen auf Basis der Gaia-X-Konzepte implementieren und so eine zusätzliche Ebene von Vertrauen und Interoperabilität in ihren genutzten Datenräumen schaffen. Das Gaia-X Credential kann dabei als eine Art „Identitätskarte“ verstanden werden, die automatisch Zugang zu neuen Ökosystemen unter Einhaltung der Compliance-Anforderungen eröffnet.

Offenheit, Interoperabilität und Vertrauen sind die zentralen Säulen einer fairen und wettbewerbsfähigen Datenökonomie.

Ulrich AhleCEO, GAIA-X

Ein Anwendungsbeispiel findet sich in der Stadt Hamburg, wo mithilfe eines Gaia-X-basierten Datenraums der Straßenzustand überwacht wird. Die Daten verschiedener Anbieter werden gesammelt, um Informationen über Straßenschäden bereitzustellen, sodass die Stadt schnell reagieren und Verkehrsunterbrechungen vermeiden kann.

Ein weiteres Beispiel ist das digitalisierteste Dorf Deutschlands – Etteln in Nordrhein-Westfalen. In diesem kleinen ländlichen Dorf werden Gaia-X-Konzepte angewendet, um zu zeigen, dass digitale Souveränität nicht auf Großstädte oder multinationale Konzerne beschränkt ist. Das lokale Ökosystem in Etteln vernetzt Energieerzeuger, Mobilitätsdienste, öffentliche Verwaltung und Bürger über einen gemeinsamen Datenraum. So werden das Energiemanagement in Echtzeit, die effiziente Nutzung lokaler Ressourcen und datengetriebene kommunale Dienste ermöglicht – alles auf der Grundlage transparenter und überprüfbarer Regeln des Gaia-X Trust Frameworks.

Darüber hinaus veröffentlichen wir dank unserer Mitglieder und Arbeitsgruppen Erweiterungen des Trust Frameworks, insbesondere in Bezug auf domänenspezifische oder geografische Regeln und Richtlinien. Die Regeln einzelner Datenräume oder Ökosysteme können ebenfalls von den im Gaia-X Trust Framework enthaltenen Engines verarbeitet werden, die maschinenlesbare Nachweise der Compliance erzeugen. Auf der SPS 2025 wird Ende November in Nürnberg gezeigt, wie hiermit auch Regeln aus Japan oder Korea abgebildet und globale Lieferketten digital abgebildet werden können.

Auf diese Weise unterstützt Gaia-X mit seinen de facto-Standards, Spezifikationen, Regeln und seinem Verifizierungsrahmen Organisationen dabei, ihre Datensouveränität by design zu wahren und gleichzeitig Lock-ins zu vermeiden.

Künstliche Intelligenz und die Zukunft von vertrauenswürdigen digitalen Ökosystemen

Künstliche Intelligenz stellt zugleich die größte Chance und die größte Bewährungsprobe für Europas technologische Autonomie dar. Die Leistungsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit von KI-Systemen hängt von der Verfügbarkeit hochwertiger, interoperabler und verlässlicher Daten ab. Genau das ermöglicht Gaia-X durch sein Trust Framework und seine Datenräume.

Indem wir den sicheren und transparenten Datenaustausch gewährleisten, legen wir die Grundlage für eine KI „Made in Europe“, die im Einklang mit unseren Werten von Datenschutz, Fairness und Rechenschaftspflicht entwickelt und betrieben wird. Gaia-X macht aus abstrakten Prinzipien wie „vertrauenswürdige KI“ eine operative Realität, in der jeder Datensatz und jeder Algorithmus nachvollziehbar, überprüfbar und zertifizierbar ist.

Mit Blick in die Zukunft wird Gaia-X weiterhin eine tragende Säule der europäischen digitalen Souveränität bleiben, indem es die Architektur bereitstellt, die KI-, Cloud- und Datenökosysteme verantwortungsvoll wachsen lässt.

Das Ziel ist nicht nur, Innovation zu ermöglichen, sondern sicherzustellen, dass technologischer Fortschritt den Menschen, Gemeinschaften und Volkswirtschaften in einer offenen und demokratischen Weise dient.

Gaia-X befähigt Europa wirklich, die digitale Zukunft anzuführen – nicht, indem es Türen schließt, sondern indem es die Brücken des Vertrauens baut, die unsere Dateninfrastruktur benötigt.

Bild: © Etteln-aktiv e.V.

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