Wie haben Innenstädte Zukunft?

Schon vor der Corona- Krise befand sich der innerstädtische Handel unter Druck, die Folgen der Pandemie beschleunigen diese Entwicklung zusätzlich. Doch die Mär vom „bösen“ Online-Handel als Totengräber des stationären Einzelhandels stimmt nicht. Die Innenstädte haben ihre Zukunft vielmehr selbst in der Hand.

Vor allem in den Klein- und Mittelzentren konnte man in den letzten Jahren miterleben, wie der innerstädtische Handel immer stärker unter Druck geriet: Erst wichen die Fachgeschäfte den Discountern, bevor sich schließlich Handyshops und Wettbüros – oder auch ganz einfach Leerstand – ausbreiteten. Im Zuge der Corona-Krise scheint diese oft beklagte Entwicklung nun auch in den teuren Fußgängerzonen deutscher Großstädte Einzug zu halten. Das Zeichen dafür ist die Schließung etlicher Filialen von Galeria Kaufhof Karstadt. Schon zuvor wurden Filialschließungen bei Esprit, Zara, Tom Tailor und vielen anderen angekündigt. Ist der Niedergang der Innenstädte damit nicht mehr aufzuhalten und werden wir bald nur noch online einkaufen?

Ja, der „böse“ Online-Handel – spricht man mit Handelsvertretern und Politikern, hört man immer wieder die gleiche Argumentation: Schuld am Niedergang der Innenstädte sei der Onlinehandel. Die Kunden würden gerade in Zeiten von Corona den Einkauf im stationären Handel meiden und stattdessen lieber bei Amazon & Co shoppen. Das Warenhaus mit seinem Riesensortiment habe dem wenigstens noch irgendwas entgegengesetzt – nun habe man gar nichts mehr. Auf den ersten Blick klingt diese Analyse logisch, aber sie geht nicht weit genug und hilft daher nicht dabei, eine Lösung zu finden. Das Problem ist doch, dass die Innenstädte eine ganze Reihe von Kundenbedürfnissen (nicht nur das Sortiment) ziemlich schlecht befriedigen – und die Kunden damit „in die Arme“ der Online-Konkurrenz getrieben haben.

Oft fehlt ein schlüssiges Konzept
Das Grundproblem liegt aus meiner Sicht auf der strategischen Ebene: Innenstädte in Deutschland sind im Grunde ungeplant entstanden. Niemand hat vorab definiert, welche Wünsche in der Fußgängerzone befriedigt werden sollen. Sie war einfach da – und entwickelte sich, wohin sie sich halt entwickelt. Es gab für viele Dinge, die man dort tun konnte, keine Alternative und somit auch keinen Druck zur Veränderung. Wenn es etwas zu entscheiden gab, dann wurde das halt per Bauchgefühl entschieden. Mehr Parkplätze oder autofreie Innenstadt? Mehr Fahrradständer oder ein neuer Springbrunnen? Wenn ich nicht weiß, wo ich hin will, kann ich auch nicht entscheiden, wo ich langlaufen soll.

Es gibt Orte, bei denen ist das anders. Der Münchner Viktualienmarkt zum Beispiel ist so geplant, dass dort eine große Auswahl verschiedener Produkte zu finden ist (was man bspw. auch an den Stand-Ausschreibungen sieht). Und Nachmieter wird nicht notwendigerweise der, der die meiste Miete zahlt. Es geht darum, ein spannendes Gesamtangebot anzubieten. Und selbst die Auswahl der Straßenmusikanten wird nicht dem Zufall überlassen.

Die Fußgängerzone als Plattform
Denn die Attraktivität einer Fußgängerzone hängt nicht vom einzelnen Laden ab, sondern von der Stadt als Ganzes. Ein Billig-Textilladen in einer Stadt bedeutet zusätzliche Auswahl – ausschließlich Billig-Textilketten sind eine Zumutung für die Kunden.

Wie sich das Handelsgefüge einer Innenstadt für die Kunden attraktiv gestalten lässt, kann man sich im Grunde bei Amazon abschauen. Denn deren Marktplatz ist ja letztlich nichts anderes als eine Sammlung kleiner und mittlerer Händler – die mehr als 50 Prozent des Umsatzes auf der Plattform generieren. Was Amazon dafür tut? Auch hier geht es um das Gesamtpaket: Amazon bietet quasi die Immobilie (den Shop), aber zusätzlich Lieferung nach Hause, Werbemöglichkeiten und sogar Attraktionen, damit die Kunden ständig zurückkommen – zum Beispiel das Portal Prime Video. Und das alles auf höchstem Niveau. Möchten die Innenstädte hier gegenhalten, sollten sie das Plattformdenken adaptieren und ihre Infrastrukturaufgabe nicht nur auf die Vermietung von Handelsflächen beschränken, sondern die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Kunden einen Ort vorfinden, der Einkauf und Unterhaltung, Inspiration und Convenience sowie auch Arbeit und Freizeit auf eine gelungene Art und Weise miteinander verbindet.

Eine Mischung, die dem Kunden gefällt
Abschauen können sich die Innenstadt-Planer sowas bei den Betreibern von guten Shopping Centern. Die versuchen für jedes Objekt eine spezielle Mischung herzustellen. Immer häufiger finden sich dabei auch besondere Kombinationen spannender Läden wie im Bikini Berlin. Die Concept Mall bietet einen guten Mix aus Geschäften mit Massen-Appeal und Boutiqueartigen Stores, die ganz gezielte Kundenbedürfnisse ansprechen, ergänzt durch die sogenannten Popup-Boxes, in denen beispielsweise junge und kreative Manufakturbetriebe eine Möglichkeit erhalten, sich mit einer temporären Präsenz beim Bikini-Publikum vorzustellen. Ein ähnlich modernes Shopping-Mall-Konzept verfolgte das Fluxus in Stuttgart, ein Zwischennutzungskonzept für die Calwer Passage im Herzen der Stadt. Das Ergebnis war ein spannendes Miteinander von Popup-Stores für Mode, Designobjekte, Accessoires, Möbel, Schmuck, Geschenke und Vintage bis hin zu Gastronomie, das von den Stuttgarter Kunden bestens angenommen wurde. Um eine ähnliche Mischung sollten sich auch die Planer der Innenstadt von Heute bemühen: Der liebevoll gestaltete Babysachen-Laden kann vielleicht nicht so viel Miete zahlen wie der x-te Billig-Bekleidungsladen – aber er macht die Stadt besonders. Immobilienbetreiber und Kommunen sollten hier zusammenarbeiten. Vielleicht macht es Sinn, einen Fonds zu gründen, damit nicht jeder auf die höchste Miete schielt, sondern in einige Immobilien auch Läden kommen, die die Fußgängerzone insgesamt stärken. Es geht um Gesamtoptimierung der Innenstadt statt um Mietoptimierung einzelner Eigentümer und dieses Problem lässt sich nicht mit Subventionen lösen, die derzeit häufiger mal gefordert werden.

Eine weitere Möglichkeit, um neue Sortimente und Angebote in die Innenstädte zu bekommen, ist es sich für neue Mietergruppen zu öffnen. Zum Beispiel für hersteller- bzw. händlerübergreifende Showroom-Konzepte, wie sie das US-Vorbild B8ta populär gemacht hat und wie sie in Deutschland nun von dem Hannoveraner Start-up Vaund eingeführt werden. So werden im Vaund Store in der Fußgängerzone der Leine-Stadt Produkte verschiedenster Art ausgestellt– zum Anschauen und Ausprobieren, aber ohne das primäre Ziel, zu verkaufen. So kommen Designermöbel, Kunst, High-End-Elektronik, Fitnessgeräte und andere Innovationen in die Innenstadt. Das Showroom-Konzept wird auch für Markenhersteller immer interessanter. Beispiele sind die Brand Stores von Nivea oder die innerstädtischen „Galleries“ der Küchen-Premiummarke Miele. Hier werden nicht nur die Geräte des Herstellers in einem optimalen Rahmen präsentiert, sondern auch Kochkurse und Gastro-Events veranstaltet – alles in einem topmodernen Store-Design, das auch digitale Präsentationsformen ganz natürlich integriert. Welche Potenziale das Denken jenseits sturer Flächenrenditen bietet, zeigt seit kurzem auch der schwedische Autohersteller Volvo: Für seine Elektroautomarke Polestar hat der Konzern in der Düsseldorfer Innenstadt einen Showroom eröffnet. Auch hier spielt die digitale Präsentation eine große Rolle und ermöglicht es so dem Produkt Auto, wieder in innenstädtische Lagen zurückzukehren und gleichzeitig neue Käufergruppen anzusprechen.

Covenience macht den Unterschied
Um die Kunden – und gerade junge Konsumenten – wieder für die Innenstädte zu begeistern, ist es nicht nur nötig, für ein attraktives Angebot zu sorgen, sondern auch ein möglichst hohes Maß an Convenience zu bieten. Dazu sollte heute selbstverständlich die Spiegelung des Angebots im Netz dazugehören. Wer bei Google nicht zu finden ist, ist für viele Kunden schlicht nicht existent. Wer dagegen sein Warensortiment online durchsuchbar macht, in Echtzeit über Verfügbarkeiten informiert sowie einfache und schnelle Reservierungsmöglichkeiten anbietet, schafft wichtige Anreize, um Kunden aus dem Netz in den Store zu bekommen. Darüber hinaus gilt es auch, über Lieferservices nachzudenken. Es gibt wunderbare Beispiele von Städten, die aus befahrenen Straßen Fußgängerzonen gemacht haben – die Sendlinger Straße in München zum Beispiel. Wenn ich aber in der Innenstadt Sortimente anbieten will, die man nicht in der Einkaufstüte heimträgt, dann muss ich für Transportmöglichkeiten sorgen – jetzt kaufen, heute Abend geliefert bekommen. Das können Städte natürlich dem Handel überlassen. Aber wenn ich als Kommune ein Interesse an einer lebendigen Innenstadt habe, dann sollte ich mich um alles kümmern, was dafür erforderlich ist. Lieferdienste wie das deutschlandweit aktive Atalanda oder Boxbote in Augsburg haben während des Corona-Lockdown ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, Einzelhandelsartikel schnell zum Kunden zu bringen und stehen auch in Nicht-Krisenzeiten gerne als Partner der Städte und des Handels zur Verfügung.

Zu guter Letzt ist es wichtig zu akzeptieren, dass sich die Zeiten ändern. So schade es einige finden mögen: Viele Fußgängerzonen sind einfach überdimensioniert für die Kundenbedürfnisse, die sich dort am besten befriedigen lassen. Es gibt kein Naturgesetz, dass eine Fußgängerzone so groß sein muss wie sie vor 20 Jahren war. Es gibt aber eben auch kein Naturgesetz, dass Büros und Wohnen dort nichts zu suchen hat. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, eine Innenstadt zu neuem Leben zu erwecken. Warenhäuser braucht man dazu nicht. Aber auch denen geht’s natürlich deutlich besser, wenn viele Kunden sich gerne in ihrem Umfeld aufhalten.

Über Wolfgang Kirsch

Wolfgang Kirsch ist einer der anerkanntesten Experten für Consumer-Electronics und Handel in Europa. Er war für viele Jahre Geschäftsführer der MediaMarktSaturn Retail Group und arbeitet heute als Berater für Händler, Hersteller und Private Equity Unternehmen sowie als Senior Advisor bei der Unternehmensberatung McKinsey. Kirsch ist an mehreren Startups beteiligt, zum Beispiel an der Vitaboni AG, wo er auch als Aufsichtratsvorsitzender agiert. Vitaboni bietet nachhaltige Kapseln mit Bio-Kaffee für das Nespresso-System an.