Warum Deutschland einen grundlegenden Paradigmenwechsel braucht.

Deutschland fällt als Wirtschaftsstandort zurück. Solche und ähnliche Einschätzungen häufen sich in den vergangenen Monaten. Einer der Gründe: Bürokratie, die zunehmend Wettbewerbsfähigkeit schwächt und Innovation verhindert.

Dabei ist eine starke und innovative Verwaltung mit ein Grund für das industrielle Deutschland, dafür, dass dieses Land im 19. Jahrhundert zu einem der größten Volkswirtschaften der Welt aufgestiegen ist. Die großen Staats- und Verwaltungsreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts um Stein, Hardenberg und anderen haben dabei die modernsten Technologien und Innovationen ihrer Zeit für einen starken Staat und effiziente Verwaltung nutzbar gemacht. So geht die Verwendung von verschiedenen Stiftfarben bei der Kommentierung von Verwaltungsvorlagen – grün für den Minister, rot für den Staatssekretär, Violett für die Abteilungsleiter auf diese Zeit zurück.

Leider haben wir genau das in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend verlernt: Innovationen für Staat und Verwaltung nutzbar zu machen. Wir haben uns darauf beschränkt Werkzeuge der Vergangenheit einfach fortzuschreiben – die Stiftfarben stehen heute dafür sinnbildlich – statt neue Technologien auszuprobieren und einzuführen.

Wir haben verlernt, Risiken zu bewerten und kalkuliert einzugehen. So wie es jeder erfolgreiche Unternehmer tagtäglich macht und ohne die keine Innovation möglich ist. Stattdessen halten wir uns fest an bestehenden, teilweise jahrzehntealten Regulierungen. Und: machen neue. Sie geben uns tatsächliche (und vermeintliche) Sicherheit vor neuen Entwicklungen, neuen Technologien. Natürlich hat jede (bisher) erfolgreiche Gesellschaft den Hang zu bewahren.

Auch zunehmende Dokumentationsverpflichtungen oder ein starkes Vergaberecht sind Ausfluss des Wunsches nach struktureller Verankerung einer fairen und skalierbaren Gesellschaftsordnung. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass immer dann, wenn man die Verantwortung des Einzelnen durch strukturelle staatliche Regulierung ersetzt, man Innovation behindert und Eigenmotivation drosselt.

Wenn wir unsere Stellung und mehr noch den Wohlstand für die Menschen in diesem Land halten wollen, müssen wir mutiger werden. Mutig, Chancen frühzeitig zu entdecken, Risiken einzuordnen und bewusst einzugehen. Das heißt auch: Mehr ex-post Regulierung bei dem wir neuen Geschäftsmodelle und Technologien eine Chance geben ihre Leistungsfähigkeit zu zeigen, bevor wir sie (durchsetzungsstark und marktgängig) regulieren.

Was heißt das konkret, beispielsweise für die Verwaltungsdigitalisierung?

Gerade in der öffentlichen Verwaltung heißt dies: Überkomplexität abzubauen. Ziele definieren, Prozesse überprüfen und Vereinfachungen ermöglichen. Moderne Technologien wie Künstliche Intelligenz dürfen nicht dazu verleiten Verwaltung wie beispielsweise das Steuerrecht noch komplexer zu machen, sondern effizienter. Oftmals ist eine geeignete Pauschalierung die bessere Lösung – unter Inkaufnahme, dass im Einzelfall Ungerechtigkeiten bleiben.

Eine konsequente Umsetzung der Verwaltungsdigitalisierung erfordert an einigen Stellen auch echte Einschnitte. Statt beispielsweise dauerhafte Ausnahmen für Menschen ohne Internetzugang zu schaffen, sind Terminals in öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken der bessere Ansatz.

Die Chancen Staat und Verwaltung mit modernen Technologien handlungsfähiger und stärker zu machen sind dabei lange nicht mehr so gut wie heute: Künstliche Intelligenz, Cloud und andere Technologien ermöglichen die Hebung großer Effizienzpotenziale und völlig neuer Möglichkeiten für ein evidenz-basiertes Regieren.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis aus den bisherigen Erfahrungen der Verwaltungsdigitalisierung ist, dass es nicht nur an einigen grundlegenden Bausteinen für eine wirksame Digitalisierung der Verwaltung fehlt, sondern im Wesentlichen an einem gemeinsamen Zielbild von Bund, Länder und Kommunen. Grundlage einer solchen Zielbilds muss dabei ein plattformbasiertes Ökosystem der öffentlichen Hand sein, eine Gesamtstrategie für dessen Umsetzung, eine auskömmliche Finanzierung sowie klare, effektive Governance-Strukturen für die Gesamtsteuerung und mehrwertbasierte Umsetzung der Prozesse.

Wir brauchen ein Cloud-basiertes Plattform-Ökosystem

Einer der Kardinalfehler des ursprünglichen Onlinezugangsgesetzes (OZG) war es, Onlinedienste auf Portallösungen, die im Wesentlichen Antragsdaten erfassen, zu beschränken, statt eine durchgehende Ende-zu-Ende Abwicklung in einem Plattformökosystem einzufordern.

Entscheidend wird daher sein, dass eine Umsetzung nicht wie bisher in proprietären Silos erfolgt, sondern in einem offenen, diskriminierungsfreien Cloud-basierten Plattform-Ökosystem, bei dem die Fachprozesse mit Low-Code modelliert werden können. Nur so werden redundante Entwicklungen vermieden und ein skalierbares und wirtschaftlich betreibbares Angebot geschaffen. Dazu gehören verbindliche Standards und Basiskomponenten – wie Nutzerkonten, Zahlungskomponenten, IT-Transportstandards und Schnittstellen für den sicheren Datenaustausch.

Ein solches Ökosystem ermöglicht dabei mit einer sinnvollen Standardisierung auch weiterhin föderale Umsetzungen und eine markt-orientierte Einbindung von starken Akteuren aus der Wirtschaft. Auf dieser Basis kann ein innovatives Ökosystem nutzerfreundlicher Verwaltungsdienstleistungen gedeihen, in dem die öffentliche Hand auch von fortschrittlichen Angeboten der Privatwirtschaft profitiert.

Dabei sind wirksame Maßnahmen nachhaltig machbar – beispielsweise im Rahmen des anstehenden OZGÄnderungsgesetzes: Ein durchgehender Rechtsanspruch beispielsweise auf elektronische Einreichung (und Zustellung) wie ihn auch der Normenkontrollrat fordert wäre einer der mächtigsten und nachhaltigsten Treiber für eine nachhaltige Verwaltungsdigitalisierung. Mit einer pauschalen Entschädigung für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen auch einfach umsetzbar: Jedes Mal, wenn diese aufgrund fehlender elektronischer Angebote die Verwaltungsleistung nicht-elektronisch einreichen müssen, gibt es Geld zurück.

Auch das „once-only“ Prinzip (Daten werden nur einmal durch den Staat abgefragt) ließe sich damit effektiv motivieren: Ein smarter Ansatz könnte beispielsweise sein, dass – nach einer gewissen Übergangsfrist – Behörden, die Daten oder Dokumente von einem Antragsteller anfordern, diesen mit einem pauschalen Betrag entschädigen, sofern die Daten bereits von einer anderen Behörde erfasst worden oder verfügbar sind. Damit wird behördenseitig ein erheblicher Anreiz geschaffen, die eigenen Register rechtskonform verfügbar zu machen.

Auch bei der Abwicklung von Bundesgesetzen in Auftragsverwaltung durch Länder und Kommunen ließe sich mit einem Paradigmenwechsel die Digitalisierung nachhaltig beschleunigen und vereinfachen: Für Verwaltungsleistungen aufgrund eigener Gesetze stellt der Bund eine Plattform mit entsprechenden Fachanwendungen bereit, die eine Ende-zu-Ende Abwicklung ermöglicht und auf der die Länder und Kommunen die Auftragsverwaltung umsetzen können.

Genau bei diesem Ansatz unterstützt der GovTech Campus Bund, Länder und Kommunen.

Wir haben leider verlernt Innovationen für Staat und Verwaltung nutzbar zu machen.

Ammar AlkassarVorstand, GovTech Campus Deutschland
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