Steuerbarkeit von Sanierungsprozessen durch Sitzverlegung

Rüdiger Weiß, Rechtsanwalt und Sanierungsberater, Fachanwalt für Insolvenzrecht, WallnerWeiß; Mitherausgeber „Der Sanierungsberater“

Der Erfolg einer Unternehmenssanierung hängt maßgeblich von der Kompetenz der Beteiligten ab. Der betriebswirtschaftliche Berater des Unternehmens sollte seinen Tätigkeitsschwerpunkt zumindest auch in der gerichtlichen Sanierung haben und in der Lage sein, die außergerichtliche Sanierung ohne Bruch (stufenlos) in die gerichtliche Sanierung überzuleiten. Der mit der Insolvenzantragstellung beauftragte Rechtsanwalt sollte zwingend über vertiefte Kenntnisse der Praxis des zuständigen Insolvenzgerichts und des Insolvenzrichters verfügen.

Der Sachwalter hat seine Überwachungsfunktion nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zukunftsorientiert auszuüben. Er muss beratend in dem Sinne tätig werden, dass er sich rechtzeitig in die Erarbeitung der Konzepte einbinden lässt und rechtzeitig zu erkennen gibt, welche erwogenen Maßnahmen nach seiner Auffassung möglich und welche geprüften Wege gangbar sind (BGH, Beschl. v. 21.7.2016 , IX ZB 70/14, Rn. 73; Beschl. v. 22.9.2016, IX ZB 71/14, Rn. 64). Hierauf ist der Verfasser in seinen früheren Veröffentlichungen unter den Titeln „Unternehmenssanierung in Eigenverwaltung aus Praktikersicht“ (E-Book für Geschäftsführer 2018, Seite 118 ff.) sowie „Praxis der Steuerbarkeit von gerichtlichen Sanierungsprozessen“ (E-Book für Geschäftsführer 2020, Seite 117 ff.) umfassend eingegangen.

Aufgrund der unterschiedlichen Praxis, wie bei Insolvenzgerichten mit sog. gesteuerten gerichtlichen Sanierungsverfahren umgegangen wird, soll nachfolgend die Möglichkeit der Steuerbarkeit des Sanierungsprozesses durch die Verlagerung der wirtschaftlichen Tätigkeit (§ 3 Abs. 1 Satz 2 InsO) bzw. des Geschäftssitzes (§ 3 Abs.1 Satz 1 InsO) beleuchtet werden.

Die Qualität der Verfahrensbearbeitung durch die Insolvenzgerichte hängt von den Erfahrungen und der – auch ökonomischen – Sachkunde der juristisch ausgebildeten Richter und Rechtspfleger ab, die vor allem durch die wiederholte Bearbeitung von Eigenverwaltungsverfahren erworben wird. Angesichts circa 190 Insolvenzgerichten sind jedoch einige Insolvenzgerichte selten bis gar nicht mit Eigenverwaltungsverfahren befasst.

Die hohe Anzahl von Insolvenzgerichten bedingt auch die uneinheitliche Handhabe von Eigenverwaltungsverfahren. Während beispielsweise bei einer Vielzahl von Insolvenzgerichten eine Vorbesprechung ausdrücklich gewünscht ist, gibt es immer noch Gerichte, welche ein solches Gespräch ablehnen. Der zum 01.01.2021 eingeführte, gesetzliche Anspruch auf ein Vorgespräch gemäß § 10a InsO besteht nur, wenn aufgrund der Größenkriterien des § 22a Abs. 1 InsO grundsätzlich ein vorläufiger Gläubigerausschuss einzusetzen wäre. Bei Unternehmen unterhalb der Schwellenwerte des § 22a Abs. 1 InsO liegt die Führung eines Vorgesprächs im Ermessen des Insolvenzgerichts. Auch in Bezug auf die Einsetzung eines fakultativen Gläubigerausschusses und ggf. eines Verwaltervorschlags ist die Gerichtspraxis uneinheitlich. Manche Insolvenzgerichte berücksichtigen weder die Mitwirkungsbereitschaft qualifizierter Gläubiger noch folgen sie dem eigentlich bindenden Vorschlag der Gläubiger und bestellen andere Personen als Sachwalter (vgl. ESUG-Evaluierung, Bericht Seite 210). Da die Entscheidungen des Insolvenzgerichts über die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nicht justiziabel sind, hat sich seit Einführung der zwingenden Vorschlagsrechte im Rahmen eines Schutzschirmverfahrens (§ 270d Abs. 2 InsO nF) oder durch einen einzusetzenden Gläubigerausschuss (§ 56a Abs. 2 InsO), bei Insolvenzrichtern, welche einer Sanierung in Eigenverwaltung bei mitgebrachtem Sachwalter eher kritisch gegenüberstehen, eine gewisse Kreativität zur Umgehung eines bindenden Vorschlags entwickelt.

Während einige Insolvenzrichter dazu übergegangen sind, zunächst ohne entsprechende Bestellung der Gläubigerausschussmitglieder von diesen in einer sog. vorkonstituierenden Sitzung zu verlangen, sich auf die Person des Sachwalters unter Einflussnahme des Richters zu einigen, weisen andere Richter darauf hin, dass gemäß der ständig geübten Praxis des Insolvenzgerichts zunächst ein Gutachter eingesetzt werde, welcher eine vorgelegte Schutzschirmbescheinigung, die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens in Eigenverwaltung sowie ggf. das Erfordernis eines fakultativen Gläubigerausschusses umfassend und kritisch prüfen werde, sofern nicht dem Vorschlag des Gerichtes zur Person des einzusetzenden Sachwalters gefolgt wird. Als weiteres probates Mittel hat sich in der Praxis die Einsetzung eines gerichtlichen Gutachters und vorläufigen Sachwalters ohne sofortige Bestellung eines Gläubigerausschusses erwiesen. Hierdurch erhält der gerichtlich Bestellte die Möglichkeit, auf die Besetzung eines ihn unterstützenden Gläubigerausschusses Einfluss zu nehmen bzw. durch die Umbesetzung des Gläubigerausschusses ein einstimmiges Votum und damit einen für das Gericht bindenden Vorschlag zu verhindern.

Die Beratungspraxis hat hierauf reagiert, indem versucht wird, im Vorfeld der Sanierung die Zuständigkeit eines anderen Insolvenzgerichts durch die Verlegung des Schwerpunktes der wirtschaftlichen Tätigkeit und/oder des Geschäftssitzes zu begründen.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts vorrangig nach dem Ort, an dem der Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners liegt. Fällt dieser mit dem Ort des allgemeinen Gerichtsstands zusammen, ist nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO das Insolvenzgericht ausschließlich örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Schuldner seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Bei einer GmbH ist dies der im Gesellschaftsvertrag festgelegte und in das Handelsregister eingetragene Sitz der Gesellschaft. Wie die Bestimmung des wirtschaftlichen Mittelpunkts erfolgt, ist umstritten. Nach einer Auffassung liegt der Mittelpunkt dort, von wo aus der wesentliche Teil der Geschäfte selbstständig getätigt wird; entscheidend sei nicht der innere Geschäftsgang, sondern der Verkehr nach außen. Nach anderer Ansicht kommt es auf die örtliche Einrichtung an, von der die wesentlichen unternehmensleitenden Entscheidungsbefugnisse wahrgenommen werden; wo diese Entscheidungen in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt würden, sei unerheblich (zum Vorstehenden MüKo-InsO/Ganter/Bruns, § 3 InsO Rn. 10 m.w.N.).

Allein eine Sitzverlegung ohne gleichzeitige Verlegung des wirtschaftlichen Mittelpunkts begründet demnach nicht die Zuständigkeit des Gerichts am neuen Unternehmenssitz. Die gesteuerte Änderung des Gerichtsstands ist daher mit einigen Anstrengungen verbunden, insbesondere bei großen Unternehmen. In der Praxis bedienen sich die Unternehmen immer häufiger sog. Generalbevollmächtigter, welche teilweise in die Organstellung eintreten und die neben der Sanierungsgeschäftsführung das Controlling, die Prüfung des Rechnungswesens, die Abwicklung des Zahlungsverkehrs sowie die wesentlichen Vertragsverhandlungen an sich ziehen und damit die Verschiebung des Mittelpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit begründen.

Gegen eine strategische Sitzverlegung zur Begründung einer bestimmten gerichtlichen Zuständigkeit wird teilweise der Einwand des Rechtsmissbrauchs erhoben. Liegen keine wirtschaftlichen oder sonstigen insolvenzfremden Gründe für die Sitzverlegung vor, werde das Recht auf den gesetzlichen Richter umgangen (vgl. Blankenburg, ZInsO 2020, 2523; Hellfeld, NZI 2021, 84). Diese Argumente, welche oft im Zusammenhang mit sog. Firmenbestattungen angeführt werden, greifen bei der Steuerbarkeit eines gerichtlichen Sanierungsprozesses nicht. Die gerichtliche Sanierung im Rahmen der Eigenverwaltung – meist mittels Insolvenzplans – stellt eine im Vergleich zum Regelinsolvenzverfahren kostengünstigere Sanierungsart dar, was bereits im Insolvenzantrag darzulegen ist (vgl. §§ 270a Abs. 1 Nr. 5, 270b Abs. 2 InsO). Damit ist die Sanierung im Rahmen der Eigenverwaltung aufgrund der Kostenersparnis auf eine Besserstellung der ungesicherten Gläubiger im Insolvenzverfahren im Vergleich zum Regelverfahren und damit auf eine strikte Einhaltung des Grundsatzes des par conditio creditorum (§ 1 InsO) ausgerichtet. Der Gesetzgeber selbst bezweifelt, dass strategische Sitzverlegungen im Inland, welche auf die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts zielen, einen Missbrauch darstellen, insbesondere da hiermit keine Änderung des anzuwendenden Rechts verbunden ist (vgl. BT.-Drucks. 18/407, Seite 19 zur Einführung eines Konzerngerichtsstands). Auch nach Ansicht der insolvenzrechtlichen Rechtsprechung handelt es sich bei der Annahme eines Rechtsmissbrauchs um einen im Zweifel eng auszulegenden Ausnahmetatbestand (LG Bremen, Beschl. v. 5.10.2020, 6 T 370/20).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die unterschiedliche Behandlung von Eigenverwaltungsverfahren durch die einzelnen Insolvenzgerichte die Planbarkeit von Sanierungsprozessen erschwert. Die Möglichkeit einer strategischen Sitzverlegung ist im Rahmen der Erstellung des Sanierungskonzepts frühzeitig zu erwägen. Ohne Hinzutreten insolvenzzweckwidriger Beweggründe ist die Einflussnahme auf den Gerichtsstand nicht rechtsmissbräuchlich.