Interview mit Sebastian Steiniger, Director Underwriting & Products bei Hiscox Deutschland, über die Bedeutung der Digitalisierung für die Versicherungswirtschaft und die Rolle der Mitarbeiter bei der digitalen Transformation.
Redaktion: Gerhard Walter, Solutions by HANDELSBLATT MEDIA GROUP GMBH
Welchen Stellenwert nimmt die Digitalisierung künftig für die Versicherungswirtschaft ein?
Einen sehr hohen. Grundsätzlich schaffen digitale Prozesse viel Spielraum, um gängige Produktivitätskennzahlen zu verbessern und damit Kostensenkungen zu erreichen. In den eher traditionellen Industrien sind dies oft die ersten Argumente, die traditionell ins Feld geführt werden. Daneben ist die Kundenbegeisterung, die sich mit digitalen Prozessen erreichen lässt, ein mindestens gleichstarker Hebel. Amazon und Paypal sind schließlich nicht vorrangig aus Kostensenkungsgründen so erfolgreich geworden, sondern weil sie eine hervorragende Customer Experience bieten und den Kunden viel Zeit sparen. Ich denke, da können und müssen wir als Industrie auch davon lernen.
Werden die eher traditionellen Unternehmen der Versicherungsbranche nun zu agilen Tech-Companies?
Genau, das ist das Ziel! Grundsätzlich ist das aus meiner Sicht aber natürlich eine etwas längere Reise und ich halte es dabei auch für wichtig, zu verstehen und abzuwägen, wieviel die jeweilige Unternehmenskultur kurzfristig an Veränderung verarbeiten kann. Daher kommt es in den nächsten Jahren entscheidend darauf an, dass im Leadership der Versicherungsindustrie verantwortungsvoll mit dem Thema umgegangen wird. Zunächst gilt es dabei, Agilität individuell zu definieren – und auch Buzz-Wording zu vermeiden. Für mich bedeutet es, dass Entscheidungen stets an den Stellen getroffen werden sollten, wo die besten Informationen vorliegen. Dafür brauchen wir Mut und eine offene Kultur, die Fehler als Notwendigkeit und Chance begreift, Dinge besser zu machen. Zudem muss – zum Beispiel bei Projektplanungen – ein Rahmen bereitgestellt werden, der aktiv atmet und eine fortlaufende Priorisierung und Re-Priorisierung ermöglicht. Negative Begleiterscheinungen von kurzfristigen Planänderungen müssen moderiert werden, sofern es übergreifenden Zielsetzungen zuträglich ist.
Welche Rolle spielt bei dieser Entwicklung die Coronapandemie? Ist Corona der Zwangsbeschleuniger für eine Branche, die bisher eher verhalten auf die Digitalisierung reagiert hat?
Corona hat der Branche sicherlich geholfen, notwendige und zeitgemäße Infrastrukturen schneller bereitzustellen. Auch hat sich der Blickwinkel auf einige Themen deutlich verändert und ich meine, es sind auch mutigere Entscheidungen getroffen worden. Beispielsweise durfte ich vor einigen Jahren erleben, wie eine Diskussion zur Sinnhaftigkeit von Videobegutachtungen im Underwriting und bei Schadenfällen im Keim erstickt wurde, ohne dass es aus meiner Sicht wirkliche Showstopper gegeben hätte. Wohl aber Risiken, wenn man vom Status quo abgewichen wäre. Heute gibt es da oft bessere Abwägungen, die Risiko und Chancen in einem ausgewogenen Verhältnis beurteilen und es werden auch mehr Risiken angenommen, wenn die Opportunitäten diese rechtfertigen.
In welchen digitalen Feldern sehen Sie Wachstumspotenziale? Eher bei den Produkten oder doch bei Finance und Sales?
Es würde dem Thema nicht gerecht, hier einzelne Bereiche in den Vordergrund zu rücken. Eigentlich geht es um die Verbindung der gesamten eigenen Wertschöpfungskette und auch der Eingliederung von Partnern via APIs. Alle Bereiche müssen da ihren Beitrag leisten, um erfolgreich zu sein. Die gute Nachricht ist sicherlich, dass der Tesla der Versicherungsindustrie noch nicht entstanden ist. Es bleibt also noch Zeit, die Hausaufgaben gut, gründlich und ohne Panik zu erledigen.
Wie lässt sich die Transformation erfolgreich umsetzen?
Das ist je nach Unternehmen sehr unterschiedlich. Kultur, Mitarbeiter und Kundenzielgruppen variieren stark und haben einen großen Einfluss darauf, welche Priorität dem Thema zukommt und wieviel in welchem Zeitraum erreicht werden kann. Große Konzerne stehen da sicherlich vor einer größeren Herausforderung als noch jüngere und kleinere Einheiten, da viele Prozesse und Strukturen über viele Jahre eingeschwungen sind. Transformation bedeutet vor allem, Vereinfachung einzuführen und die Nutzung von Synergien sicherzustellen. Einige einfache Regeln im Produktdesign, wie zum Beispiel die Begrenzung von Produktbausteinen, Versicherungssummen und die mehrfache Verwendung standardisierter Klauseln können helfen, eine Basis zu schaffen. Dann kommt es darauf an, diese mit einer intelligenten Steuerung in den IT-Systemen zu verbinden und dabei stets die End-to-End-Prozesskette von Produkt zu Sales über Claims in den IT-Systemen effizient und möglichst ohne Medienbrüche abzudecken. Schließlich benötigt man dann eine gemeinsame Vision, die mit einer inspirierende Zielsetzung Mitarbeiter motiviert und die auch erklärt, warum wir uns verändern müssen.
Und welche Rolle spielen dabei die Mitarbeiter?
Die alles Entscheidende. Wie bereits beschrieben halte ich es für sehr wichtig, dass alle Mitarbeiter in den Unternehmen Verantwortung übernehmen und ihr Möglichstes beitragen, um die aus ihrer Sicht richtigen Entscheidungen herbeizuführen, wenn Sie über die relevante Information verfügen. Und ich denke, das wird auch passieren. Wenn ich mich an 2010 erinnere, wie viele Kollegen Ihre Rollen in Entscheidungsprozessen interpretiert haben und wie dies heute geschieht, hat sich da schon sehr viel verändert. Hierarchische und starre Entscheidungsprozesse sind da vielerorts agilen Entscheidungsprozessen gewichen und die Rollenbilder in den Projekten haben sich deutlich gewandelt. Ich denke, das gibt viel Antrieb auch mit Zuversicht auf die kommenden zehn Jahre. Die Voraussetzungen sind also gut, dass es tatsächlich noch goldene 20er werden.
Sebastian Steininger ist Director Underwriting & Products bei Hiscox Deutschland. Der studierte Betriebswirt verantwortet damit die Produktlandschaft, Antrags- und Angebotsprozesse sowie die Zeichnung der Risiken. Sebastian Steininger verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in der Versicherungswirtschaft: Er startete seine Karriere im Allianz-Konzern, wo er unter anderem Positionen wie Head of Product Ratings & Communication, Head of Strategic Planning & Performance Management und schließlich Head of Products innehatte. Zuletzt war er für das Produktmanagement der digitalen Plattform Audatex beim Technologieunternehmen Solera zuständig.