Pflicht zur Krisenfrüherkennung – die Geschäftsleitung im Konflikt zwischen Gesellschafter- und Gläubigerinteresse

Maximilian Bei der Kellen, Rechtsanwalt, Brinkmann & Partner Rechtsanwälte | Steuerberater mbB

Bedingt durch einen Strukturwandel und die Pandemie sind mehr Geschäftsleiter denn je gezwungen, sich mit der Unternehmensführung in der Krise auseinanderzusetzen und begegnen dabei neuen Gesetzesvorschriften. Der Gesetzgeber hat mit dem zum 1. Januar in Kraft getretenen § 1 Abs. 1 StaRUG die Pflicht zur Krisenfrüherkennung in den Fokus genommen: die Geschäftsleiter haben fortlaufend über Entwicklungen zu wachen, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden können (Pflicht zur Krisenfrüherkennung). Erkennt die Geschäftsleitung solche Entwicklungen, hat sie geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen (Pflicht zum Krisenmanagement). Für einen Geschäftsleiter, der mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes handelt (§ 43 GmbHG), ist das keine Revolution und dennoch eine Zäsur durch das neu geschaffene Gesetz.

Die im Interesse der Gläubiger geschaffene Pflicht zur Krisenfrüherkennung steht mitunter im Konflikt zum Gesellschafterinteresse. Im Zeitpunkt einer Strategiekrise oder Absatzkrise, in der noch Erträge erwirtschaftet werden, ist nicht jeder Gesellschafter gewillt, in eine Restrukturierung zu investieren, während am Horizont der Verlust der Eigentümerstellung droht.

Pflicht zur Krisenfrüherkennung
Jedes Unternehmen hat über ein geeignetes Krisenfrüherkennungssystem zu verfügen. Die Ausgestaltung des Frühwarnsystems liegt im Ermessensspielraum der Geschäftsleitung und richtet sich wesentlich nach dem Geschäftsfeld, der Unternehmensgröße sowie der Unternehmensorganisation. Umso größer und komplexer ein Unternehmen ist, umso eher sollte externe Beratung hinzugezogen werden (Beachtung IDW PS 340). Ausgestaltung des Krisenfrühwarnsystems mittels KPIs Entsprechend der Stadien einer Unternehmenskrise lassen sich verschiedene spezifische Indikatoren für eine Krise definieren, die in ein solches Frühwarnsystem integriert werden. In der Regel wird die Krise mit Eintreten einer Strategiekrise, dem zweiten Krisenstadium, messbar.

Eine Krisenfrüherkennung für Strategiekrise kann bei einer regelmäßigen Marktanalyse, beispielsweise in Form der SWOT-Analyse sowie der Wettbewerbs- und Branchenstrukturanalyse ansetzen. Der Blick ist auf alle Faktoren zu lenken: Wie wirken sich die Megatrends der 2020er-Jahre auf mein Geschäftsmodel aus, welche regulatorischen Veränderungen bahnen sich an, welche Innovationen bedrohen das Geschäftsmodell, wie entwickeln sich Mitbewerber etc.

Die Strategiekrise mündet in die Produkt- und Absatzkrise. Das Krisenfrühwarnsystem sollte für dieses Stadium je nach Einzelfall Key Performance Indicator (KPI) laufend überwachen. KPI’s müssen nicht perfekt, aber vergleichbar sein. Solche KPI’s können sein:

  • Lagerentwicklung und Umschlagshäufigkeit
  • Auftragslage
  • Produktmängel/Ausschussquote
  • Auslastung von Maschinen und Personal
  • Umsatzentwicklung einschließlich Umsatz pro qm und Umsatz pro Mitarbeiter
  • Fremdfinanzierungsgrad
  • Zahlungsverhalten der Kunden.

Ein Kernbestandteil der Krisenfrüherkennung muss sein, die Ist-Zahlen mit den Planwerten abzugleichen, Veränderungen zu erkennen und die Ursachen herauszuarbeiten.

Daneben sollten weiche KPI’s fortlaufend ausgewertet werden:

  • Krankenstand/Fehlzeiten
  • Mitarbeiterfluktuation
  • Mitarbeiterbewertungen (beispielsweise auf Jobportale wie KUNUNU oder interne Befragungen)
  • Kundenzufriedenheit
  • Innovationskraft (Verhältnis Ideen aus Unternehmen zu Umsetzung)

Die Liquiditätsplanung als Dreh- und Angelpunkt der Unternehmenskrise
Regelmäßig führt die Unternehmenskrise erst mit der Ergebnis- und Liquiditätskrise zum Handlungsdruck bei Geschäftsführern und Gesellschaftern. An dieser Stelle ist ein wesentlicher Schaden verbunden mit einem gestiegenen Ausfallrisiko für die Gläubiger entstanden. Eine Restrukturierung kann zwar gelingen, ist aber mit höheren Anstrengungen und Kosten verbunden. Für den Gesellschafter stellt sich an dem Punkt die Frage eines weiteren Invests in das Unternehmen. Grundsätzlich hat jedes Unternehmen zu jedem Zeitpunkt über eine Liquiditätsplanung zu verfügen. Spätestens mit Eintritt der Ergebniskrise ist eine wasserdichte Liquiditätsplanung unerlässlich zur Krisenbewältigung und der Vermeidung einer Geschäftsleiterhaftung.

Die Liquiditätsplanung sollte mindestens zwei Geschäftsjahre umfassen und mit verschiedenen Planungsszenarien erarbeitet sein. Gerade in volatilen Branchen sind Szenarienplanungen mit Best und Worst Case sowie weiteren Szenarien (Disruption Case) wichtig, um bei einer veränderten Marktlage handlungsfähig zu bleiben. Die Liquiditätsplanung darf nur Zahlungseingänge zu dem Zeitpunkt berücksichtigen, in dem der Zahlungseingang überwiegend wahrscheinlich ist. Umgekehrt sind alle Verbindlichkeiten mit ihrer Fälligkeit einzuplanen – freilich auch die zukünftigen Verbindlichkeiten (sog. Passiva II). Eine gute Liquiditätsplanung enthält darüber hinaus eine Kommentierung der Prämissen und die Auswertung der Abweichungen von Plan- und Ist-Zahlen für die Vergangenheit.

Dokumentation und Überwachsung des Frühwarnsystems
Ein Frühwarnsystem ist am Unternehmen auszurichten, entsprechend systematisch aufzubauen und zu dokumentieren. Mit Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit sind Gegenmaßnahmen unerlässlich und im Falle einer späteren Insolvenz dient die Dokumentation des Frühwarnsystems zur Entlastung des Geschäftsleiters.

Die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Frühwarnsystem müssen an einer Schnittstelle zusammenlaufen. Es kann sich anbieten, hierzu regelmäßig einen Lenkungsausschuss einzurichten, in dem die Entwicklungen aus verschiedenen Bereichen zusammengetragen und diskutiert werden, so dass eine Risikobewertung vorgenommen werden kann.

Pflicht zum Krisenmanagement
Den Erkenntnissen aus dem Frühwarnsystem müssen Handlungen folgen. Deswegen ist die Geschäftsleitung gem. § 1 Abs. 1 S. 2 StaRUG verpflichtet, geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen. Dabei trifft die mit der Krise und dem Alltagsgeschäft ausgelastete Geschäftsführung auf die Herausforderungen des Projekt- und Umsetzungsmanagements.

Erarbeitung von Gegenmaßnahmen
Zunächst wird auszuloten sein, ob Restrukturierungsoptionen mit Bordmitteln erarbeitet werden können oder externe Beratung zu Rate gezogen wird. Dies richtet sich besonders nach dem Krisenstadium und der Krisenursache.

In einem frühen Krisenstadium betrifft die Restrukturierung zumeist das Geschäftsmodell, dessen Optimierung oder Veränderung. Gegenmaßnahmen in Form von Innovation können in diesem Zeitpunkt aus den eigenen Reihen kommen – die Mitarbeiter/innen kennen das Unternehmen, seine Stärken und Potenziale am besten.

Im Stadium der Ertrags- und Liquiditätskrise empfiehlt sich die Beauftragung externer Beratung vor dem Hintergrund steigender Haftungsrisiken. Berater können zur Erarbeitung von Gegenmaßnahmen die Zügel anziehen, beispielsweise im Liquiditätsmanagement unterstützen und die Umsetzung von Maßnahmen sicherstellen.

Nicht zuletzt kann ein Berater die Rolle des (Sanierungs-) Moderators übernehmen. Bei ihm laufen die Interessen und Bedürfnisse der verschiedenen Stakeholder zusammen. Hierdurch kann neues Vertrauen in den Restrukturierungsprozess gewonnen werden.

Umsetzung von Gegenmaßnahmen mit externer Unterstützung
Die Umsetzung eines Konzepts ist eine Sollbruchstelle, wenn Planung und Umsetzung nicht Hand in Hand gehen. Die Umsetzung des Restrukturierungskonzepts bedarf eines Projektteams. Empfehlenswert kann es sein, einen Chief Restructuring Officer (CRO) zu bestellen. Das Ziel muss es sein, nachvollziehbare Handlungen zu ergreifen und diese zu dokumentieren, um die Umsetzung vorantreiben zu können. Ein zuverlässiges, professionelles und transparentes Reporting ist unerlässlich für die wohlwollende Begleitung der Restrukturierung durch die Gesellschafter und externen Finanzierer.

Keine vorinsolvenzliche Sanierung ohne Zustimmung des Gesellschafters
Spätestens in der Liquiditätskrise wird die Geschäftsführung die Sanierung mittels des neu geschaffenen Restrukturierungsrahmens oder im Rahmen eines Schutzschirm-, Eigenverwaltungs- oder Insolvenzverfahrens prüfen müssen.

An diesem Punkt spitzt sich der Konflikt zwischen der Wahrung der Gläubiger- und Gesellschafterinteressen zu. Die Einleitung eines Eigenverwaltungs- oder Restrukturierungsverfahrens bei drohender Zahlungsunfähigkeit erfordert die Zustimmung des Gesellschafters. Andernfalls droht dem Geschäftsführer zum einen die Haftung für hieraus entstandene Vermögensschäden, zum anderen die Abberufung aus der Organstellung.

Die Verweigerung einer rechtzeitigen Sanierung durch die Gesellschafter stellt die Geschäftsführung vor ein Dilemma: Entweder wird die Pflicht zum Krisenmanagement verletzt oder es droht die Haftung wegen einer ohne die Zustimmung des Gesellschafters eingeleiteten Sanierung. Helfen kann hierbei eine rechtzeitige professionelle Kommunikation. Die Chancen der Restrukturierung, damit verbundene Kosten und eventuell erforderliche Beiträge müssen transparent und kompetent aufgezeigt werden. Führt dies nicht zum Erfolg, ist die enge Abstimmung der Geschäftsführung mit einem rechtlichen Berater empfehlenswert, um eine mögliche spätere Haftung zu vermeiden.

Fazit
Das StaRUG und die gestiegenen Anforderungen an die Geschäftsführung fallen in die Zeit einer für unser Wirtschaftssystem bisher einmaligen Pandemie und deren Auswirkungen sowie zahlreichen disruptiv wirkenden Megatrends. Die Krisenfrüherkennungspflicht und etwaige Haftungsansprüche sind durch die Rechtsprechung zu konturieren, während Geschäftsleiter in Krisenunternehmen einem enormen Handlungs- und Haftungsdruck ausgesetzt sind.

Im ersten Schritt hat jeder Geschäftsführer zu prüfen, ob ausreichende Mechanismen zur Krisenfrüherkennung bestehen, und diese in ein System zu übertragen und erforderlichenfalls zu erweitern. Umso größer und komplexer das Unternehmen ist, umso kritischer ist das Krisenfrühwarnsystem auf seine Wirksamkeit zu prüfen.