In den vergangenen zwei Jahren wurde viel darüber berichtet, wie die Pandemie Schwächen in unserem Gesundheitssystem offenbart hat. Das oft zitierte „Brennglas” hat viele Missstände aufgedeckt. Ebenso hat Corona Veränderungen beschleunigt und für einige Themen den notwendigen Anstoß geliefert. Man denke an die Nutzung der Videosprechstunde oder an die Corona-Warn-App, die bis heute 40 Millionen Mal heruntergeladen wurde. Und noch einen Effekt hatte COVID-19: Noch nie war der Ruf nach verlässlichen, strukturierten Daten sowie nach evidenzbasierten Entscheidungen so laut wie jetzt.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Potentiale von Gesundheitsdaten sind in der Digital Health Community unumstritten und der Enthusiasmus groß. Einblicke in das reale Versorgungsgeschehen können helfen, Patient:innenpfade sichtbar zu machen und zu verbessern oder die Entstehung und Verbreitung von Erkrankungen zu verstehen. Bedarfe und Versorgungslücken werden deutlich und können adressiert werden.
In der Forschung können Versorgungsdaten klinische Studien durch sogenannte virtuelle Kontrollarme vereinfachen und somit die Entwicklung von Innovationen beschleunigen. Genauso kann analysiert werden, welche Bedeutung Arzneimittel im Versorgungsalltag haben, was die Nutzenbewertung und eine faire Preisfindung für Arzneimittel erleichtert.
Doch das deutsche Gesundheitssystem agiert in vielen Bereichen im Blindflug. Patient:innen müssen Tests mehrfach durchlaufen, weil Informationen nicht zwischen Ärzt:innen und Sektoren geteilt werden. Unsere vielfältige Landschaft aus klinischen und epidemiologischen Registern bietet kaum Möglichkeiten, die dort liegenden Daten zu verknüpfen und wertbringend zu nutzen. Erfolgsabhängige Vergütungsmodelle werden als das Zukunftsmodell für hochpreisige Arzneimitteltherapien gepriesen, doch die Messung ebendieses Erfolgs ist derzeit nur schwierig umsetzbar, weil Einblicke in die Versorgungsrealität fehlen.
Die Weichen sind gestellt
In der vergangenen Legislaturperiode wurden wichtige Weichen gestellt. Das Forschungsdatenzentrum könnte in den kommenden Jahren zur zentralen Plattform für Gesundheitsdaten in Deutschland werden. Notwendig dafür ist es, neben den Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen auch Daten aus der elektronischen Patient:innenakte, aus Gesundheits-Apps und Wearables, aus klinischen und epidemiologischen Registern im Forschungsdatenzentrum zusammenzuführen. Eine Widerspruchslösung für Patient:innen ist hierbei die Voraussetzung.
Die neue Bundesregierung muss nun konsequent die nächsten Schritte gehen. Der Koalitionsvertrag enthält dazu vielversprechende Ankündigungen. Eine Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen, ein Gesundheitsdaten- sowie ein Registergesetz, der Aufbau einer dezentralen Forschungsdateninfrastruktur – diese Maßnahmen können dazu beitragen, die Verfügbarkeit von strukturierten, standardisierten, interoperablen Gesundheitsdaten in Deutschland zu verbessern. Auch ein gleichberechtigter Zugang zu Daten für die öffentliche und private Forschung spielt dabei eine wichtige Rolle. Wenn es dann noch gelingt, den immensen zeitlichen Verzug bei der Bereitstellung dieser Daten zu verringern, wären wir auf einem sehr guten Weg.
Patient:innen in den Mittelpunkt stellen
Neben der technischen Umsetzung ist es eine zentrale Aufgabe, Bedenken und Bedarfe von Patient:innen zu verstehen und Vertrauen zu schaffen. Hohe und verlässliche Datenschutzstandards sind dafür von entscheidender Bedeutung. Um eine rechtssichere Nutzung von Daten für die Forschung, für die Nutzenbewertung und für die Verhandlung und Umsetzung von neuen Vergütungsmodellen zu ermöglichen, sind dabei bestimmte Weiterentwicklungen notwendig. Dazu gehören neben einer Klarstellung und Harmonisierung der teils widersprüchlichen Auslegung des aktuellen Rechtsrahmens auch Regeln für die Anonymisierung und Pseudonymisierung, für synthetische Daten und Datentreuhänderschaft, für die Sekundärnutzung und für die nationale und europäische Verknüpfung von Gesundheitsdaten.
Die informationelle Selbstbestimmung von Patient:innen setzt neben technischen Lösungen wie Opt-Out-Möglichkeiten für Datenfreigaben ein gewisses Maß an Digital- und Gesundheitskompetenz voraus. Menschen müssen verstehen, was mit ihren Daten geschieht, wie sie davon profitieren und welche Risiken es gibt, um informierte Entscheidungen treffen zu können. Auch hier hat die neue Bundesregierung sich selbst einen Handlungsauftrag gegeben und wir werden gespannt beobachten, wie dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt wird.
Die fortschreitende Digitalisierung und die wachsende Verfügbarkeit von Daten bieten die Möglichkeit, unser Gesundheitssystem zum Positiven zu verändern. Es besteht eine echte Chance, es stärker am Wert für die Patient:innen auszurichten, um evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Unser gemeinsames Ziel muss ein Gesundheitssystem sein, das sich an den Ergebnissen messen lässt. Denn davon profitieren letztendlich alle.