Artikel aus dem Handelsblatt Journal Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie vom 16.2.2024
Voraussetzungen für glaubhafte Abschreckung durch integrierte Sicherheit und Verteidigung
Ein Leben in Frieden und Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit mehr in Europa, ist keine Selbstverständlichkeit mehr für die Menschen in Deutschland. Auf dem europäischen Kontinent ist der Krieg zurück. Mit dem russischen Angriff auf ein freies und souveränes Land, mit dem Überfall auf die Ukraine hat Russland die Frage von Krieg und Frieden wieder in das Zentrum unseres Handelns gerückt. Gleichzeitig bleibt auch die Welt um uns herum nicht stehen. Sie wird nicht friedlicher und auch nicht stabiler. Terror gegen Israel. Bürgerkrieg im Sudan. Krisen, Konflikte und regionale Spannungen in der unmittelbaren Nachbarschaft, auf dem Balkan, in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten oder im Indo-Pazifik machen auch während des russischen Angriffskriegs keine Pause. Und wir können nur schwer voraussagen, wohin diese Entwicklungen in der Welt führen werden, welche Krise Deutschland als nächstes unmittelbar betrifft und vor allem wo die Grenze für Russland sein wird. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und Drohungen gegen unsere Verbündeten im Baltikum sowie die Aufrüstung und das Umstellen auf Kriegswirtschaft in Russland sprechen eine deutliche, eine auch für uns bedrohliche Sprache.
Mit dieser konkreten Bedrohungslage für das Bündnisgebiet und unser Land sind Kriegstüchtigkeit unserer Streitkräfte und Wehrhaftigkeit unserer Gesellschaft wieder in den Fokus gerückt. Dabei können die Denklogiken des Kalten Kriegs und die Erfahrungen aus dem brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine nur bedingt Blaupausen für die Zukunft bieten. Der Krieg ist und bleibt, das wusste Clausewitz, ein „wahres Chamäleon“. Kriegerische Auseinandersetzungen werden in Zukunft durch die Kombination von konventionellen, asymmetrischen und hybriden Mitteln geprägt sein. Sie werden in allen Dimensionen unter gleichzeitiger Nutzung modernster Technologie und einfachster Mittel sowie einer hohen Anzahl konventioneller Waffen und Soldaten geführt. Sie werden die Streitkräfte sowie die Gesellschaft gleichermaßen betreffen; eine klare Unterscheidung der Konfliktphasen ist nur schwer möglich. Trends wie der rasante technologische Fortschritt im Bereich der Digitalisierung und Automatisierung werden die Entwicklungen maßgeblich befeuern. Potenzielle Gegner werden dabei immer versuchen, alle Verwundbarkeiten eines Staats und einer Gesellschaft ins Visier zu nehmen, um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Folgerungen für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Bundeswehr
Auf diese Elemente zukünftiger kriegerischer Auseinandersetzungen, auf dieses sicherheitspolitische Umfeld und die damit einhergehenden Herausforderungen wie Gleichzeitigkeit, Unvorhersehbarkeit und Komplexität, aber auch auf den demografischen Wandel müssen wir uns als Bundeswehr, aber auch als Gesellschaft einstellen und vorbereiten. Und zwar heute. Dazu müssen wir Landesverteidigung und Bündnisverteidigung neu denken. Wir müssen vorausdenken und die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Bundeswehr konsequent an die heutigen Gegebenheiten anpassen und gleichzeitig für die Zukunft ausrichten.
Mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien haben wir die hierzu notwendigen Grundlagen gelegt und die Richtung vorgegeben: Glaubhafte Abschreckung durch integrierte Sicherheit und Verteidigung. Zeitgemäße Landesverteidigung und Bündnisverteidigung sind der Kernauftrag unserer Bundeswehr. Unsere Streitkräfte müssen sich innerhalb der Allianz darauf einstellen und demnach auch vorrangig darauf ausgerichtet werden, einen Krieg, einen Verteidigungskrieg führen zu können.
Erst durch die glaubhafte Fähigkeit, einen solchen Krieg bestehen und gewinnen zu können, wird Abschreckung glaubhaft und ein potenzieller Gegner wird erkennen, dass die Kosten höher sind als der mutmaßliche Nutzen einer militärischen Aggression. Dabei stehen wir selbstverständlich auch zu unserer internationalen Verantwortung und stützen die regelbasierte internationale Ordnung. Deutschland wird weiterhin an der Seite seiner Partner sein und auch Aufgaben für Frieden und Stabilität in der Welt, im internationalen Krisenmanagement übernehmen. Das alles müssen wir mit unserer „einen“ Bundeswehr, unseren Menschen, Fähigkeiten und Strukturen leisten und diese Aufträge, die uns die Politik überträgt, stemmen. Das tun wir und das werden wir. Die Befähigung zur Verteidigung Deutschlands und seiner Verbündeten in der NATO steht an erster Stelle und muss der bestimmende Maßstab zur Ausrichtung und Ausstattung unserer Streitkräfte sein. Zur glaubhaften Abschreckung und damit auch bei deren Scheitern bedarf es einer starken, zukunftsfähigen Bundeswehr, einer kriegstüchtigen Bundeswehr. Kriegstüchtig sind wir, wenn Soldatinnen und Soldaten optimal ausgerüstet und ausgebildet sind. Vorbereitung ist entscheidend. Ebenso entscheidend ist aber auch die Einstellung. Kriegstüchtig sind wir daher nur, wenn alle Bundeswehrangehörigen, egal ob in Uniform oder Zivil, ein gemeinsames Selbstverständnis haben, das die Auftragserfüllung, die Verteidigung des Rechts und der Freiheit des deutschen Volkes in den Mittelpunkt jeglichen Handelns stellt.
Voraussetzungen für zeitgemäße Landes- und Bündnisverteidigung
Die Bundeswehr muss sich für ihre Kriegstüchtigkeit weiter verändern. Wir brauchen eine Bundeswehr, die schnell, agil und flexibel zum Einsatz kommen und dimensionsübergreifende Operationen in einem gläsernen Gefechtsfeld durchführen kann. Dafür müssen wir viel stärker als bisher auf Zukunftstechnologien und deren zügige Nutzung in der Bundeswehr setzen. Das wird exemplarisch beim zukünftigen Einsatz und der Abwehr von Drohnen sowie dem Aufbau entsprechender Fähigkeiten deutlich. Darüber hinaus muss die Bundeswehr durchhalte- und aufwuchsfähig aufgestellt sein. Wir gestalten unsere Materialbewirtschaftung ebenso wie Personalgewinnungskonzepte und unser Wehrersatzwesen neu. Darüber hinaus müssen wir unsere Strukturen verschlanken und eine Militärstrategie entwickeln. Erforderlich ist dies, weil unser Sicherheitsumfeld immer dynamischer und komplexer wird, wir unsere Kräfte priorisieren müssen und klare Vorgaben für die Ausgestaltung der Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr benötigen. Vieles haben wir in diese Richtung bereits angestoßen, vieles braucht allerdings auch Zeit und kann erst der Anfang sein: Laufende Erarbeitung der Militärstrategie für unsere Streitkräfte, Reorganisation des BMVg und der Bundeswehr, Beschleunigung der Beschaffung und die Adressierung der drängenden Themen wie Drohnen und Personal sowie unser bundeswehrgemeinsames Selbstverständnis in der Zeitenwende. Darauf bauen wir auf und treiben die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr jetzt konsequent voran. Bei allen wichtigen Anstrengungen, unsere Bundeswehr kriegstüchtig zu machen, ist aber auch klar, dass unsere Sicherheit und Verteidigung nie rein militärisch gedacht werden kann. Ein potenzieller Gegner wird die Schwachpunkte unserer Gesellschaft angreifen, auch mit verdeckten, mit hybriden Mitteln. Daraus folgt, dass wir nur in Verbindung mit einer wehrhaften Gesellschaft glaubhaft abschrecken. Unsere Fähigkeit zur Gesamtverteidigung und unsere Resilienz als Staat und Gesellschaft sind daher entscheidend.
Ein Aspekt, der damit eng verbunden ist, betrifft die Notwendigkeit, Krisen und hybride Angriffe rechtzeitig zu erkennen. Im Sinne der integrierten Sicherheit müssen wir in der Lage sein, gemeinsame Lagebilder und unsere nationale Führungsfähigkeit zu gewährleisten. Gleichzeitig gehören auch Versorgungssicherheit und Durchhaltefähigkeit zur gesamtgesellschaftlichen Resilienz. Dies beinhaltet auch, dass wir die Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze an die Erfordernisse einer zeitgemäßen Landes- und Bündnisverteidigung anpassen.
In diesen tiefgreifenden und fordernden Veränderungsprozessen befinden wir uns gerade. Mit dem Ziel, die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen. Damit wird unser Staat, unsere Gesellschaft ein stückweit resilienter und wehrhafter. Das wird einen langen Atem erfordern. Wir haben uns das nicht ausgesucht. Während in den letzten Jahrzehnten politische Entscheidungen maßgeblich dafür waren, in welchen Kriegen die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr kämpften, wird uns dies jetzt wieder durch einen Gegner vorgegeben. Der „war of choice“ weicht dem „war of necessity“. Dieser Wandel und unsere Herausforderungen in der Zeitenwende verlangen eine Kraftanstrengung von uns als Staat und Gesellschaft. Wir müssen diesen Weg gehen. Zum Schutz der Menschen in Deutschland, denn nur so garantieren wir eine Bundesrepublik, in der wir auch künftig in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben können. ■