Herr Stadler, worin liegen in der Nutzfahrzeugbranche die größten Herausforderungen bei der Zusammenarbeit mehrerer Hersteller?
Die Komplexität beginnt bereits bei den unterschiedlichen Entwicklungsprozessen der Hersteller. Jeder bringt eigene Meilensteine und Entscheidungspunkte mit, was häufig zu Synchronisierungsproblemen führt. Hinzu kommen Konstruktions- und Integrationskonflikte aufgrund konkurrierender Prioritäten. Das führt nicht selten zu Doppelarbeit, Verzögerungen und höheren Kosten.
Ihre Untersuchungen zeigen interessante Unterschiede im Digitalisierungsgrad verschiedener Fuhrparks. Was haben Sie hier beobachtet?
Unsere Daten belegen, dass größere Flotten komplexere digitale Anforderungen haben. Bei Flotten mit 101 bis 2000 Fahrzeugen nutzen fast 50% zwischen vier und zehn verschiedene digitale Lösungen. Kleinere Flotten mit unter 50 Fahrzeugen kommen hingegen meist mit zwei bis drei Lösungen aus, und keine benötigt mehr als sieben digitale Tools. Die Integration dieser vielfältigen Systeme stellt eine zusätzliche Herausforderung dar.
Ein besonderer Schwerpunkt scheint die Verschmelzung von digitaler und mechanischer Welt zu sein.
Genau das ist eine der größten Hürden. Traditionelle Nutzfahrzeughersteller tun sich oft schwer damit, innovative digitale Funktionalitäten in ihre bestehenden mechanikzentrierten Prozesse zu integrieren. Interessanterweise sehen 43% der von uns Befragten einen hohen Bedarf an Retrofit-Dongle-Lösungen, um ältere Fahrzeuge nachträglich zu vernetzen. Das zeigt, wie groß die Lücke zwischen mechanischen Fahrzeugen und digitalen Anforderungen tatsächlich ist.
Gibt es Unterschiede zwischen Ein-Marken-Flotten und gemischten Fuhrparks?
Definitiv. Ein-Marken-Flotten setzen überraschend häufig auf selbst entwickelte Inhouse-Lösungen für ihr Flottenmanagement. Etwa 30% bevorzugen eigene Systeme gegenüber Lösungen von Fahrzeugherstellern oder spezialisierten Softwareunternehmen. Das deutet darauf hin, dass die von OEMs angebotenen digitalen Dienste oft nicht den spezifischen Anforderungen genügen.
Gibt es Branchen mit besonderen Anforderungen?
Landwirtschaftliche Flotten zeigen ein interessantes Muster. 86% der Befragten mit einem signifikanten Anteil landwirtschaftlicher Fahrzeuge nutzen zwischen zwei und sechs digitale Lösungen. Diese Spezialflotten haben also ähnlich komplexe Digitalisierungsanforderungen wie große gemischte Fuhrparks.
Wie können Unternehmen diese Herausforderungen meistern?
Entscheidend ist zunächst, von Anfang an gemeinsame Ziele zu definieren und die Prozesse aller Beteiligten aufeinander abzustimmen. Dazu gehört ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl mechanische als auch digitale Aspekte umfasst. Offene Kommunikation und Transparenz beschleunigen die Entscheidungsfindung erheblich. Manchmal ist auch die Einbindung erfahrener Dritter sinnvoll, die Probleme aufzeigen können, welche interne Teams übersehen.
Können Sie ein Beispiel für eine erfolgreiche Transformation in diesem Bereich nennen?
Eine der größten und wirkungsvollsten digitalen Transformationen im Automobilsektor war sicherlich die Zusammenarbeit zwischen Volkswagen und Cariad. Aus diesem Projekt lassen sich wertvolle Lehren ziehen – sowohl was erfolgreiche Strategien angeht als auch hinsichtlich der Herausforderungen, die dabei auftreten können.
Vielen Dank für das Gespräch.
HINTERGRUND
Helmut Stadler, Partner und Mobilitätsexperte bei diconium, hat federführend an der dicoDecode+ Studie mitgewirkt, die den Markt für digitale Dienste in der Nutzfahrzeugindustrie analysiert. Die umfassende Untersuchung wertete 101 digitale Dienstleister aus und verglich mehr als 700 digitale Services in den USA, China und Europa.
Die Studie deckt das gesamte Nutzfahrzeug-Ökosystem ab – von Transportern über LKWs bis hin zu Anhängern – und bietet sowohl OEMs als auch Softwareanbietern wertvolle Einblicke in ihre Marktposition im Vergleich zu Wettbewerbern. >> Erfahren Sie mehr