Interview mit Dr. Michael Müller-Wünsch, Bereichsvorstand Technology (CIO), Otto Group

Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe der Transformation

Die digitale Transformation birgt enorme Potenziale im Bereich der Nachhaltigkeit. Gleichzeitig kann ein Mehr an Technologie auch einen erhöhten CO2-Fußabdruck bedeuten. Dr. Michael Müller-Wünsch, Bereichsvorstand Technology bei OTTO, erklärt im Interview, was die IT-Abteilungen der Unternehmen tun müssen, um in diesem Spannungsfeld ihren Beitrag zur Nachhaltigkeitsstrategie zu leisten.

OTTO blickt auf einer der erfolgreichsten Transformationen der deutschen Unternehmenslandschaft zurück. Wie haben Sie das geschafft?

Wir haben das große Glück, dass Prof. Dr. Michael Otto als Vorstandsvorsitzender das Bewusstsein für das enorme Potenzial der Digitalisierung schon früh in die Organisation getragen hat. Beispielsweise haben wir schon 1995 unser gesamtes Sortiment ins Web gebracht – in einer Zeit, in der nur 250.000 Menschen in Deutschland überhaupt einen privaten Internetanschluss hatten. Von da an haben wir konsequent unser Geschäft transformiert. Zuletzt haben wir unser lineares Handelsmodell zu einem zweiseitigen Ökosystem entwickelt, an dem sich MarktteilnehmerInnen einfach beteiligen und dieses mitgestalten können. Dadurch ist OTTO heute ein wachsender Marktplatz mit über 5.000 Partnern und 14,5 Millionen Produkten. Diese Transformation ist aber nicht allein auf die eingesetzten Technologien zurückzuführen. Sie ist auch das Produkt eines noch immer andauernden Kulturwandels.  

Apropos Kultur: Das Thema Nachhaltigkeit ist seit jeher in der OTTO-DNA verankert. Wie hat sich dieser Anspruch in Zeiten der digitalen Transformation verändert?

Bei der digitalen Transformation geht es nicht mehr allein darum, Geschäftsfunktionen digital zu unterstützen, sondern darüber hinaus zusätzliche, oftmals auf Daten basierende Geschäftsmodelle zu etablieren. Mit der zunehmenden Bedeutung von Technologie und Daten wächst auch die Verantwortung des IT-Bereichs für die ESG-Compliance und den CO2-Footprint des Geschäftsmodells. Der Infrastrukturbedarf und damit indirekt auch der Energiebedarf werden durch umfängliche Datenvolumina und daraus resultierende Rechneranforderungen auf einen neuen Prüfstand gestellt. Datenminimalismus und Berechnungseffizienzen der Algorithmen und Software-Architekturen stellen eine neue Zieldimension der gesamtunternehmerischen Leistung dar. Und diese liegt ganz klar im Verantwortungsbereich der Technologieverantwortlichen.

Nachhaltigkeit ist also Aufgabe der IT?

Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe der Transformation. Ich glaube viel zu häufig verstricken wir uns im Digitalisierungsdiskurs in Diskussionen um technische Infrastrukturen und – hierzulande insbesondere – verpasste Chancen. Oft verlieren wir dabei aber außer Acht, dass Digitalisierung ja kein Selbstzweck ist. Sie ist kein Soll-Zustand, den wir erreichen wollen, sondern ein Vehikel auf dem Weg in Richtung eines gesamtgesellschaftlichen Fortschritts: Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, ethische Fragestellungen und die Art, wie Unternehmen heute geführt werden – der Wirkungsgrad der digitalen Transformation greift weit über rein wirtschaftliche Interessen der Unternehmen hinaus.

Zudem ist der gesamte ESG-Komplex ja längst kein Distinktionsmerkmal mehr für besonders „fortschrittlich denkende“ Unternehmen. Die Einhaltung der Richtlinien ist unsere gesellschaftliche Verantwortung. Technologien können und müssen hier einen entscheidenden Beitrag leisten.

Aber auch diese Technologien hinterlassen ja einen Fußabdruck. Was können die IT-Abteilungen tun, um ihren Beitrag zur Nachhaltigkeitsstrategie der Organisation zu leisten?

IT-Abteilungen sind in der Verantwortung, die eingesetzten Informations- und Kommunikationstechnologien sowie deren Anwendung so umweltverträglich und ressourcenschonend wie möglich zu gestalten. Und das über alle Phasen der Wertschöpfung hinweg: Von der Beschaffung, entlang des gesamten Lebenszyklus und hin zur Verwertung und Entsorgung der Hardware. Das erreicht man nicht von heute auf morgen und nicht ohne Anstrengung – insbesondere auf der Anwendungsseite. Denn natürlich ist beispielsweise „Green Programming“, also das effiziente Programmieren von Software, die wiederum ressourcenschonender betrieben werden kann, für Entwickler mit einem zusätzlichen Aufwand neben dem allgemeinen Transformationsvorhaben verbunden. „Green IT“ als MVP, ein Minimum Viable Product, im Rahmen der Gesamttransformation zu denken, kann hier hilfreich sein. Die Versorgung von Rechenzentren und Büros mit Ökostrom und die nachhaltige Nutzung und Entsorgung von Hardware beispielsweise sind vergleichsweise niedrigschwellige Optionen, auf die die Organisation iterativ aufbauen kann. Dafür sind Daten entscheidend. Durch sie werden Nachhaltigkeitsbestrebungen messbar. Sie helfen dabei, Ist-Zustände zu identifizieren und kurz- und mittelfristige Ziele zur Reduktion zu definieren.

Wie unterstützt die Digitalisierung dabei, den E-Commerce nachhaltiger zu gestalten?

Der Einsatz von Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz in der User Experience ist ein gutes Beispiel dafür. Algorithmen liefern KonsumentInnen anhand von Daten in Echtzeit relevante und passgenaue Angebote und Produktvorschläge. Dadurch werden letztlich Retouren nicht passender Artikel vermieden. Die Plattformdaten erlauben es uns wiederum, das Verhalten von OTTO-KundInnen genauer zu prognostizieren. Darauf basierend können wir beispielsweise unsere Supply Chain optimieren, bedarfsgerecht einkaufen und Warenüberschüsse vermeiden. Auf diese Weise flankieren wir technologisch unsere weiteren Nachhaltigkeitsbestrebungen wie das Verwenden nachhaltiger Verpackungen, den klimaneutralen Versand, das wachsende Angebot an nachhaltigen Artikeln, Service- und Produktangebote für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft und vieles mehr. Das alles zahlt auf unser Ziel ein, bis 2030 als Unternehmen klimaneutral zu werden.

Welche Rolle spielt das nachhaltige Wirtschaften vor dem Hintergrund der Nachwuchsgewinnung?

Eine ganze entscheidende. Gerade junge Talente suchen gezielt nach Arbeitgebern, die Verantwortung übernehmen und werteorientiert handeln. Und das ist auch im IT-Bereich nicht anders. Mehr als ein Drittel aller MitarbeiterInnen bei OTTO hat mittlerweile einen Tech-Hintergrund. Darauf können wir stolz sein, auch vor dem Hintergrund unserer Nachhaltigkeitsbestrebungen, die im „War for Talents“ ein immer stärkeres Kriterium für BewerberInnen werden. Und wir wollen noch zahlreiche weitere Tech-Stellen besetzen. Deshalb setzen wir uns auch mit diversen Initiativen für die Aus- und Weiterbildung in der IT ein. Ein persönliches Anliegen ist es mir dabei, den Frauenanteil in MINT-Berufen deutlich zu erhöhen. Und da fangen wir bei uns an: Mein Ziel bleibt es, mindestens 50 Prozent aller offenen Tech-Stellen bei OTTO mit Frauen zu besetzen. 60 Prozent der Einstellungen im Februar waren bereits weiblich. Der Frauenanteil in unserer IT liegt mittlerweile bei 29 Prozent – 18 Prozent über dem deutschlandweiten Durchschnitt. Das zeigt: Es geht.