„In der Tat sind defekte oder mangelhafte Produkte die Ursache für mehr als die Hälfte des Schadenaufkommens“

Interview mit Jörg AhrensGlobal Head of Key Case Management bei der Allianz Global Corporate & Specialty SE, über weltweit steigende Haftpflichtschäden in einer immer komplexer werdenden Produktwelt und den Trend zu Social Inflation.

Redaktion: Gerhard Walter, Solutions by HANDELSBLATT MEDIA GROUP GMBH

Die Haftungsrisiken für Unternehmen nehmen derzeit deutlich zu. Immer öfter stellen dabei Produktmängel die Versicherer vor große finanzielle Herausforderungen. Wie lässt sich dieser Schadentrend einordnen – und vor allem stoppen?
Wir haben weltweite Haftpflichtschäden in den Jahren 2014 bis 2019 untersucht und in der Tat sind defekte oder mangelhafte Produkte die Ursache für mehr als die Hälfte des Schadenaufkommens nach Volumen. Die technische Komplexität der Produkte und ihre Interdependenzen nehmen zu, Reparaturen benötigen mehr Zeit und Aufwand und erfordern oftmals Spezialisten. Zudem können auch teure Materialien wie innovative Verbundstoffe in der Luftfahrt für unvorhersehbare Entwicklungen sorgen.

Rückrufaktionen insbesondere im Automobilbereich und in der Lebensmittelbranche setzen die Haftpflichtversicherer massiv unter Druck. Wie können und müssen die Haftpflichtversicherer auf diese Entwicklung reagieren?
Produktrückrufe nehmen zu und verursachen steigende Versicherungsschäden. In der Automobilbrache liegt dies vor allem an der hohen Konzentration innerhalb der Branche: Oft beliefern nur wenige Zulieferer mehrere Hersteller – im Falle eines defekten Bauteils sind dann schnell sehr viele Fahrzeuge betroffen. Bei Lebensmittelrückrufen liegen die Gründe in komplexen, zunehmend internationalen Lieferketten, aber auch in stärkerer Überwachung und besseren Möglichkeiten zur Rückverfolgung von Kontaminationen oder Krankheitserregern. Reputations-bedingte Rückrufe bedingen eine weitere Dimension. Wir arbeiten mit unseren Kunden zusammen, um Produktmängel zu reduzieren, aber gleichzeitig müssen wir auch unsere Kapazitäten vorsichtig einsetzen, um nicht von Kumulschäden betroffen zu sein.

Derzeit ist auch Social Inflation – der Trend zu steigenden Versicherungskosten aufgrund vermehrter Rechtsstreitigkeiten, klägerfreundlicher Urteile und hohen Schadenersatzsummen – vor allem in den USA zu beobachten. Mit Blick auf die Haftpflichtrisiken – welche Bedeutung hat Social Inflation für die künftigen Geschäftsaktivitäten der Allianz?
Wir beobachten den Trend zu Social Inflation seit längerem und nehmen ihn sehr ernst. Die durchschnittliche Vergleichssumme der Top50-Gerichtsurteile in den USA hat sich von 2014 bis 2018 von 28 Millionen auf 54 Millionen US-Dollar nahezu verdoppelt. Durch die Pandemie hat sich die Lage etwas entspannt. Weil Gerichte geschlossen sind, waren einige Kläger und ihre Anwälte in Fällen mit einem niedrigeren Streitwert zu einer außergerichtlichen Einigung bereit. Doch für Entwarnung wäre es zu früh. Die Kläger und ihre Anwälte agieren immer professioneller, um die Geschworenengerichte in ihrer personellen Zusammensetzung und ihrer Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Auch das Phänomen der Prozessfinanzierer wird bleiben und Sammelklagen auf einem hohen Niveau halten.

Und welche Konsequenzen hat dieses Emerging Risk für deutsche Unternehmen? Steigen deren Versicherungsbeiträge?
Die Preise für Industrierisiken werden stets im Einzelfall ermittelt. Wenn ein deutsches Unternehmen an US-Börsen gelistet ist oder sich geschäftlich stark im US-Markt engagiert, dann prüfen unsere Underwriter natürlich genauer, welche möglichen Haftungsszenarien es für das Unternehmen und sein Management geben könnte.

Der Klimawandel ist die wohl größte Herausforderung der Menschheit. Die Verringerung von Kohlendioxid-Emissionen gehört zu den wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben. Dennoch gibt es Unternehmen, die es mit dem Schutz des Klimas nicht so genau nehmen und ihre CO2-Emissionen nicht reduzieren. Welche potenziellen Haftungsrisiken drohen der Versicherungsbranche infolge von Klimawandelklagen?
Insbesondere Klagen gegen Unternehmensführer (Directors & Officers) von „carbon majors“, also Öl-, Gas- oder Kohleproduzenten oder anderen CO2-intensive Industrien, die einen kausalen Beitrag zu den Folgekosten des Klimawandels geleistet haben könnten, haben eine größere Wahrscheinlichkeit im Verbund mit Sammelklagen ein erhöhtes Haftungsrisiko zu begründen. Dies könnte dann auch die Versicherungsbranche involvieren.

Inwiefern verändert die Covid-19-Pandemie die Schadenmuster im Bereich Haftpflicht?
Covid-19 hat zumindest bis dato die Schadenmuster im Bereich Haftpflicht nicht verändert. Die große Hürde der Kausalität macht eine unmittelbare Verschuldenszuordnung meist unmöglich. Dies würde sich erst dann ändern, wenn man über geänderte Beweisführungswege überwiegende Wahrscheinlichkeiten einer Verursachung begründen könnte.

Jörg Ahrens ist seit 2016 Global Head of Key Case Management bei der Allianz Global Corporate & Specialty SE (AGCS), einem weltweit führenden Anbieter von Industrieversicherungen und eine der größten Schaden- und Unfallversicherungseinheiten der Allianz Gruppe. In dieser Funktion ist er weltweit für Regulierung von Großschäden in den Bereichen Haftpflicht, Financial Lines, Aviation und Alternative Risk Transfer zuständig. Nach ersten Berufsjahren in der Schadenabteilung bei Gerling wechselte er 2007 zur AGCS nach München. Dort leitete er zunächst die Produktentwicklung in der Luftfahrtversicherung, 2010 wurde er Leiter Financial Lines Claims für die Common-Law-Länder und Asien. 2013 wechselte er als Regional Head of Claims nach Australien. Der international ausgebildete deutsche und englische Jurist mit Schwerpunkten in Europa- und Wirtschaftsrecht, einem  MBA in Versicherungsmanagement und einem Master in Business Law hat an den Universitäten Mannheim, Bristol, St. Gallen und London studiert.