Europa steht heute vor einer sicherheitspolitischen Herausforderung, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Steigende Verteidigungsausgaben in vielen Mitgliedsstaaten zeigen zwar politischen Willen, doch Geld allein reicht nicht, um eine glaubwürdige und langfristige Abschreckung zu sichern. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz, der industrielle Stärke, Innovationskraft, gesellschaftliche Resilienz und politische Führung verbindet und sich den veränderten Regeln moderner Kriegsführung stellt.
Mehr als nur höhere Verteidigungsausgaben
Seit der Annexion der Krim 2014 und dem russischen Angriffskrieg 2022 hat sich die geopolitische Lage drastisch verändert. Zugleich hat eine belastete transatlantische Allianz Europa dazu gezwungen, seine Verteidigungsstrategien neu zu denken. Die Reaktionen sind spürbar: Deutschland hat ein milliardenschweres Sondervermögen beschlossen, Frankreich prüft Ausgaben von bis zu 5 Prozent des BIP, das Vereinigte Königreich will bis 2027 auf 2,5 Prozent kommen, und die EU könnte mit dem „Readiness 2030” Plan bis zu 800 Mrd. Euro mobilisieren.
Deutschland hat die „Zeitenwende“ eingeleitet, mit dem Ziel, die Verteidigungsausgaben innerhalb von sieben Jahren nahezu zu verdreifachen. 
Sieben zentrale Handlungsfelder für Europas Sicherheit
Diese finanziellen Zusagen sind ein wichtiges Signal, doch entscheidend wird sein, wie schnell und effizient sie in reale Fähigkeiten umgesetzt werden. Bei Roland Berger haben wir dafür sieben zentrale Handlungsfelder identifiziert:
- Europäische Verteidigungszusammenarbeit – Gemeinsame Beschaffung und abgestimmte Strategien.
- Innovation, Forschung & Entwicklung – Förderung neuer Technologien und Fähigkeiten.
- Industrielle Kapazitäten – Ausbau flexibler und skalierbarer Produktionsanlagen.
- Truppenstärke – Sicherung ausreichender und gut ausgebildeter Kräfte.
- Anpassung an neue Kriegsführung – Reaktion auf hybride und digitale Bedrohungen.
- Zugang zu strategischen Wegbereitern – Sicherung kritischer Technologien und Ressourcen.
- Gesellschaftliche Resilienz – Stärkung von Infrastruktur, Zivilschutz und gesellschaftlicher Bereitschaft.
Die industrielle Basis als Schlüssel
Neben der geopolitischen Situation, hat sich auch das Bedrohungsspektrum deutlich geändert. So werden klassische militärische Szenarien heute durch Cyberangriffe, Informationskriegsführung und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen ergänzt. Deshalb braucht Europa eine flexible, technologisch fortschrittliche Verteidigungsstruktur, die auf diese Vielschichtigkeit reagieren kann.
Ein entscheidender Hebel liegt dabei in der industriellen Basis. Der alleinige Rückgriff auf die herkömmliche Verteidigungsproduktion ist zu langsam und zu teuer und birgt das Risiko von Überkapazitäten, sobald Krisen abklingen. Deshalb sehen wir hier einen hybriden Ansatz: Produktionskapazitäten in Friedenszeiten ausbauen, bestehende Anlagen modernisieren, gezielt zivile Industrien für Engpassbereiche einbinden und hochvolumige, kosteneffiziente Fertigungskapazitäten schaffen. So kann Europa schneller reagieren und gleichzeitig nachhaltiger wirtschaften.
Zusammenarbeit als Voraussetzung
Damit der Ansatz Wirkung entfaltet, müssen politische Entscheidungsträger, Militär, Verteidigungsindustrie und zivile Wirtschaft eng zusammenarbeiten. Klare Rollen, abgestimmte Prozesse und eine gemeinsame strategische Vision sind entscheidend, um Kapazitäten zügig zu erweitern und die Abschreckungsfähigkeit zu sichern.
Die Herausforderung ist groß, doch die Mittel sind vorhanden. Wenn Europa seine Kräfte bündelt, kann es seine industrielle Führungsrolle stärken und die Grundlagen für eine glaubwürdige, nachhaltige Abschreckung legen. Die Zeit drängt aber die Geschichte zeigt, dass der Kontinent in Krisen oft seine größte Stärke entfaltet. Mit Einigkeit, Entschlossenheit und Innovationsgeist kann Europa nicht nur seine Sicherheit sichern, sondern auch die Weichen für eine stabile Zukunft stellen.
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