Eine digitale Agenda 2025 für die Medizin

von Prof. Dr. med. Jörg F. Debatin

Nach der Bundestagswahl steht unser Land vor einem Neuanfang. Es geht um Erneuerung  durch Innovation – mit Konsequenz und Geschwindigkeit. Deutschland verfügt über die dafür notwendige Kreativität, wie mir der Blick auf die vielen Digital-Health-Start-ups immer wieder bestätigt. Entscheidend für den Erfolg unserer Gesundheitsversorgung waren auch bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie Teamgeist, Innovationsfreude sowie die rasch gewachsene Akzeptanz digitaler Lösungen. Anders als bislang wurde der Nutzen digitaler Technologien für Patienten und Leistungserbringer sichtbar und erlebbar.

Der Nutzen für die Medizin steht erst am Anfang
Parallel dazu gab es in der abgelaufenen Legislatur zahlreiche gesetzliche Weichenstellungen in Richtung einer grundlegenden digitalen Transformation unserer Gesundheitsversorgung. Dazu gehört die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ebenso wie das digitale Rezept, die eAU, die Stärkung der Telemedizin sowie die App auf Rezept in Form Digitaler  Gesundheitsanwendungen (DiGA) als weitere Therapieoption.

Knappe Kassen und demografischer Wandel werden auch in den kommenden Jahren den Fokus auf noch nicht realisierte Produktivitätspotenziale in unserer Gesundheitsversorgung lenken. Dabei wird die Digitalisierung eine dominante Rolle spielen. Denn trotz aller Fortschritte stehen wir bei der Nutzung digitaler Technologien in der Medizin noch ganz am Anfang.

Eine „Agenda 2025“ für die Medizin
Deshalb wünsche ich mir für die weitere Ausgestaltung der digitalen Transformation unserer Gesundheitsversorgung eine „Agenda 2025“:

1. Stärkung der digitalen Infrastruktur
5G gehört nicht nur an jede Milchkanne, sondern auch in alle Kliniken, Praxen, Versorgungszentren, sowie Pflege- und Altenheime. Ohne digitale Anbindung geht es nicht. Klar ist auch, dass Krankenhaus- und Arzt-Informationssysteme der Zukunft auf Cloud-Plattformen laufen werden. Da man Amazon, Google und Co. als Speicher medizinischer Daten wahrlich nicht empfehlen kann, benötigen wir Cloud-Angebote von Unternehmen, die sich unseren Werten verpflichtet fühlen und ihre Heimat im europäischen Rechtsraum haben. Hier wären über die Gaia-X Initiative hinausgehende staatliche Anreize ausgesprochen angebracht.

2. Konsequente Umsetzung digitaler Anwendungen
ePA, digitales Rezept, eAU und medizinische Messenger-Dienste müssen in der Breite der Versorgung ankommen. Bestehende Hürden müssen aus dem Weg geräumt werden. Dazu gehören die in die Jahre gekommenen Praxis-Verwaltungssysteme. Die ambulante Medizin in Deutschland benötigt ein „Praxis-Zukunftsgesetz“, das analog zum Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) in die Digitalisierung ambulant tätiger Ärzte investiert. Auf Basis interoperabler Datenformate braucht es eine neue Generation modularer „Arzt-Informationssysteme“ mit offenen Schnittstellen. Nur so kommen digitale Innovationen auch in der Versorgungsrealität aller Patienten an.

3. Patienteninteressen gehören in das Zentrum der Diskussion über Datennutzung
Die verstärkte Nutzung medizinischer Daten ist eine zentrale Grundlage für eine bessere Versorgung. Diese Erkenntnis muss an die Stelle von Dogma und ideologischer Selbstverwirklichung mancher Datenschützer rücken. Das kann gelingen, ohne zentrale Werte im Umgang mit personenbezogenen Daten wie Daten-Souveränität und Freiwilligkeit aufzugeben. Anstelle von 18 konkurrierenden Datenschutzbehörden brauchen wir eine einheitliche Struktur, die sich nicht in Bedenken und Verboten verliert, sondern konkrete Nutzungsmöglichkeiten für medizinische Daten aufzeigt. Daten- und Gesundheitsschutz sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf dieser Basis wünsche ich mir ein Gesetz, das die Nutzung von Patientendaten eindeutig regelt! Diese Neujustierung ist elementar für die Gestaltung eines modernen, patientengerechten und innovativen Gesundheitssystems.

Auch wichtig: eine neue Lern-Kultur
Auch wenn es unserem Streben nach Perfektion widerstrebt: Deutschland braucht ein kulturelles Umfeld, in dem ausprobiert werden darf. Der DiGA Fast Track ist dafür ein schönes Beispiel. Im Konzept sind Anpassungen, beruhend auf der Auswertung konkreter Erfahrungen, von Anfang an eingepreist. Diese Flexibilität im Denken, Entscheiden und Entwickeln benötigen wir als integralen Bestandteil jedweder Innovationspolitik. Das konstruktive Verarbeiten von Misserfolgen gehört dabei genauso dazu wie die Freude über Gelingen und Erfolg. Beides können und sollten wir besser machen! Digitale Technologien führen zu mehr Sicherheit, Transparenz und Qualität in der medizinischen Versorgung. Für den Einzelnen sind sie die Basis für individuell optimierte, personalisierte Diagnostik und Therapie. Die anstehende Umsetzung der zahlreichen digitalen Innovationen als Gemeinschaftsaufgabe zu verstehen, ist die große Aufgabe unserer Zeit.

„Deutschland benötigt ein „Praxis-Zukunftsgesetz“, das analog zum KHZG in die Digitalisierung ambulant tätiger Ärzte investiert“.


Prof. Dr. med. Jörg F. Debatin,
Leiter Health Innovation Hub,
Bundesministerium für Gesundheit

Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „HEALTH“ erschienen.
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