Die widerspenstige Kundschaft der Versicherer

Versicherungskunden sind nicht mehr bereit, hohe Kosten für komplizierte Produkte zu tragen. Auch die Digitalisierung verändert die Branche.

Susanne Schier und Christian Schnell, Handelsblatt

Frankfurt, München Die Zeiten haben sich gründlich geändert in der Versicherungsbranche. Kunden seien heute nicht mehr bereit, hohe Kosten für komplizierte Versicherungsprodukte zu tragen, sagte Axa Deutschland-Chef Alexander Vollert beim virtuellen „Handelsblatt Insurance Summit“.

„Früher haben Versicherer Produkte kreiert, die die Versicherungsvertreter verkaufen konnten. Heute sind viele Kunden aber mobil unterwegs“, erklärte Vollert, der ab 1. Dezember als Chief Operating Officer (COO) das operative Geschäft der Axa Gruppe in Paris leiten wird. Sein Fazit: Versicherer müssten ihre Angebote noch stärker für den Kunden entwickeln und nicht für den Vertrieb. Wichtig sei, die Komplexität der Produkte zu reduzieren.

Die Kundin oder den Kunden der Zukunft beschrieb er so: Die Generation „Amazon“ erwarte ständige Verfügbarkeit, die Generation „Social Media“ wünsche eine individuelle Ansprache und die Generation „Greta“ fordere Nachhaltigkeit. Reagieren müsse man auf diese neuen Anforderungen mit möglichst einfachen Produkten und neuen Dienstleistungen, die weit über das reine Versicherungsgeschäft hinausgingen.

Wie die Digitalisierung das Geschäft verändert

Zudem stellt der jüngste Digitalisierungsschub die Versicherungsindustrie vor große Herausforderungen. So fordern nicht nur junge Start-ups und branchenfremde Unternehmen die Assekuranz heraus. „Die Digitalisierung verändert auch die Kundenerwartungen grundlegend“, sagte Vollert.

„Versicherer sollten vor allem überlegen, welche digitalen Services den Kunden wirklich nutzen“, betonte Mario Greco, Chef der Zurich Insurance Group. Auch Generali Deutschland-Chef Giovanni Liverani plädierte dafür, bei allen technologischen Entwicklungen den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen.

Statt sich über Produkte zu differenzieren, sollten sich Versicherer auf Services wie etwa im Bereich Prävention konzentrieren und dann gezielt schauen, wo die persönliche Interaktion zwischen Versicherer und Kunde einen Mehrwert biete und wo sie nur Komplexität bringe.

Prävention ist auch für Greco von der Zurich Insurance Group ein wichtiges Thema. Er sieht durch die Digitalisierung zwei große Veränderungen: Versicherer hätten dadurch einen viel direkteren Draht zu ihren Kunden und Zugriff auf eine Menge von Daten. Versicherer sollten sich nun nicht nur darauf fokussieren, daraus Dinge zu entwickeln, die in erster Linie dem Unternehmen selbst nutzen. Das sei beispielsweise bei der Schadenbearbeitung mit Hilfe von künstlicher Intelligenz der Fall.

Ein echter Mehrwert für die Kunden sei jedoch, wenn Versicherer investieren, um Schäden zu vermeiden, bevor sie überhaupt eintreten. Unter anderem sieht er in der Gebäudeversicherung gute Möglichkeiten, mit speziellen Sensoren Überflutungen besser vorherzusagen.

Liverani von Generali Deutschland sieht durch die Coronakrise zwei wichtige Paradigmenwechsel für Versicherer. Zum einen nehmen die meisten Menschen Risiken völlig anders wahr als zuvor. Statt sich persönlich – egal ob mit Familie oder im Beruf – zu treffen, wird auf Videokonferenzen ausgewichen.

Zum anderen habe man bemerkt, wie wichtig der menschliche Kontakt bleibe. „Vor der Pandemie haben wir uns beim Thema Digitalisierung häufig auf die Entwicklung von künstlicher Intelligenz oder maschinellem Lernen beschränkt.“

KI geschickt einsetzen

Die künstliche Intelligenz biete zwar unschätzbare Dienste, aber nur, wenn „Versicherer sie nutzen, um das Leben der Menschen zu verbessern“, sagt Liverani. Das sei beispielsweise dann der Fall, wenn einfache Prozesse automatisch abgewickelt werden können, damit die Versicherungsmitarbeiter mehr Zeit gewinnen, sich um die Kunden zu kümmern.

Liverani sieht hier gewisse Vorteile bei jungen Versicherungs-Start-ups, auch Insurtechs genannt, die ihre Technologie komplett neu aufgebaut haben und daher besonders einfach und effizient gestalten konnten. Ihr Nachteil sei aber, dass sie wenig Erfahrungen mit den Kunden haben.

Christian Wiens, Gründer und Chef des Insurtechs Getsafe, hält dagegen, dass es Versicherern nichts nutze, wenn sie eine tolle App entwickeln, die dann von keinem Kunden genutzt wird: „Wir wollen Kunden, die nicht nur bei einer Police sparen wollen, sondern die zu uns kommen, weil sie von unseren digitalen Produkten überzeugt sind und im Lauf ihres Lebens einen Bedarf an weiteren Versicherungsverträgen haben.“

Als ein Beispiel, wo es wichtig sei, digitalaffine Kunden zu haben, die die App des Versicherers regelmäßig nutzen, nannte Wiens die Telematik-Tarife in der Kfz-Versicherung.

Diese Sparte steht vor einem besonders großen Umbruch – nicht nur in Bezug auf die Digitalisierung, sondern auch im Hinblick auf die Nachhaltigkeit. Gert De Winter, Chef der Baloise Group, sagte: „Die Kfz-Versicherer stehen vor drei Herausforderungen: null Emissionen, null Unfälle und null Eigentümer.“

Gemeint ist, dass die Automobilbranche den Wandel zur Elektromobilität vollzieht, dass der zunehmende Einsatz von Fahrassistenzsysteme zu weniger Unfällen führen wird und dass immer mehr Menschen Carsharing-Angebote nutzen anstatt ein Auto selbst zu besitzen.

Auf all diese Veränderungen müssen sich die Versicherer vorbereiten, in dem sie ihr Angebot über die reine Versicherung hinaus auf Mobilitätsdienstleistungen ausweiten. Oft geschieht dies mit Partnern in sogenannten Ökosystemen.

Eine Sorge der Versicherer ist, den Kontakt zum Kunden zu verlieren, wenn andere Unternehmen wie Autobauer, -händler und -werkstätten eine möglicherweise noch wichtigere Rolle spielen. Doch auch Huk-Coburg-Vorstandssprecher Klaus-Jürgen Heitmann sieht in der Telematik große Vorteile, da der Versicherer hier direkter Ansprechpartner für den Kunden bleibe, indem dieser kontinuierlich eine Rückmeldung über sein Fahrverhalten bekommt.

Auch in der Versicherungsaufsicht spielen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Verbraucherschutz eine große Rolle. Bafin-Exekutivdirektor Frank Grund betonte, dass seine Behörde diese Themen künftig besonders unter die Lupe nehmen werde. Die Coronakrise habe zwar gezeigt, dass die Versicherer im Vorteil seien, deren Mitarbeiter zügig im Home Office arbeiten könnten und über digitale Absatzkanäle verfügten.

IT-Sicherheit verbessern

Man werde aber untersuchen, ob sich dabei alle Versicherer an die Spielregeln halten und Verbraucher auch online gut beraten. Man werde zudem genau anschauen, wie Versicherer maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz in ihren Prozessen einsetzen. Verbesserungspotenzial sieht er beim Thema IT-Sicherheit sowie beim Management von Nachhaltigkeitsrisiken.

Jörg Kukies, Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen (BMF), sagte unterdessen, dass die Versicherungskonzerne bei der Energiewende eine bedeutende Rolle spielen werden. Der Kapitalbedarf sei enorm. Die Herausforderungen zu stemmen, werde nur durch eine Zusammenarbeit zwischen Öffentlichem Sektor und Privatwirtschaft gelingen.