Deutschland und Europa: Zwischen Standortunsicherheit und strategischem Neuanfang

Über Jahrzehnte galt Deutschland als attraktiver Industriestandort: Technologieführerschaft dank innovativer Exzellenz und einer ausgezeichneten Forschungslandschaft, gut ausgebildete Fachkräfte, günstige Energie – und dadurch starke Wettbewerbsfähigkeit in internationalen Märkten – waren die Säulen seines Erfolgs. Doch seit 2022 stellen innere Verkrustungen und externe Brüche dieses Modell in Frage. Der Angriff Russlands auf die Ukraine offenbarte die Risiken energiepolitischer Abhängigkeiten und lenkt öffentliche Investitionen in Sicherheit und Verteidigung um. Zudem belasten Handelskonflikte mit den USA das Wachstum, ebenso wie chinesische Überproduktion, die in europäische Märkte gespült wird und europäischen Exporten in Drittstaaten Konkurrenz macht.

Standort im Stresstest

Die Bewältigung dieser externen Herausforderungen setzt ein hohes Maß an innerer Stärke voraus. Doch viele Unternehmen und Investoren zweifeln an der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Seine knarzende Bürokratie, die schleppende Digitalisierung, marode Infrastruktur, ein überfordertes Bildungssystem: all das bremst Innovation und Gründungen und damit den notwendigen Strukturwandel.

Es ist bemerkenswert, dass ein Land mit hohem Lebensstandard, großzügigen Sozialleistungen, geringer Wochenarbeitszeit, vielen Feiertagen und vorzeitigen Renteneintritten nicht schon vor Jahren einen Plan entwickelt hat, wie sich diese Errungenschaften angesichts der hausgemachten Blockaden und absehbaren internationalen Umbrüche langfristig erhalten lassen. Die starke deutsche Wirtschaft hat all diese öffentlichen Güter erst ermöglicht, doch nun ist sie träge geworden.

Seit Kurzem aber erkennen Entscheider, welche Folgen die wirtschaftliche Schwäche für sie hat: Diplomaten erleben, dass „Made in Germany“ als Kommunikationsansatz im Ausland nicht mehr funktioniert. Soft Power und globaler Einfluss gehen zurück. Verteidigungspolitiker haben entdeckt, dass deutsche Rüstungsunternehmen nicht so schnell produzieren können, wie unsere Gegner. Klimapolitiker sehen den Ausbau sauberer Technologien behindert – durch Genehmigungshürden, einen schwachen Dienstleistungssektor oder gestörte Lieferketten durch eine über Jahre aufgebaute Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen.

So sind sich heute die wirtschaftspolitisch relevanten Akteure endlich weitgehend einig: Deutschland muss seine Wirtschaftskraft steigern und das am besten in enger europäischer Kooperation. Doch obwohl immer wieder Bezug genommen wird auf die Reformvorschläge des sogenannten Draghi-Berichts, ist seit seinem Erscheinen vor gut einem Jahr nichts wirklich einfacher, billiger oder schneller geworden. Und die Zeit läuft davon.

Ein neuer strategischer Kompass

Das bedeutet für Deutschland: Es muss sich selbst reformieren und zugleich viel investieren, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit voranzubringen. Europa braucht jetzt eine Wirtschaftspolitik, die Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Sicherheit und technologische Souveränität europäisch zusammendenkt und gleichzeitig klar priorisiert.

Vier Vorhaben sind zentral. Dies sind, erstens, öffentliche sowie private Investitionen in die eigene Zukunftsfähigkeit. Forschung, Digitalisierung und Infrastruktur müssen deutlich gestärkt werden. Der Binnenmarkt muss zur Plattform europäischer Schlüsseltechnologien werden, statt sich in nationalen Subventionswettläufen zu verzetteln.

Auch für die weitere Integration des europäischen Strommarkts sollte Deutschland sich einsetzen. Notwendig sind gezielte Investitionen in Stromnetze, in erneuerbare Energien, die Schaffung besserer Anreize für private und industrielle Investoren und weniger Bürokratie beim Ausbau von Solar- und Speicheranlagen. Die Stromnachfrage muss flexibler werden – durch Smart Meter, bidirektionales Laden und dynamische Strompreise.

Zweitens muss die Handlungsfähigkeit der Institutionen und der Verwaltungen deutlich verbessert werden – auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Schnellere Genehmigungsverfahren, eine hochdigitalisierte Verwaltung und eine auf klare strategische Prioritäten fokussierte Europäische Kommission sind Voraussetzung globaler Wettbewerbsfähigkeit. Zudem sollten auf europäischer und nationaler Ebene Wirtschaft und Sicherheit stärker verknüpft werden. Eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Technologiepolitik ist heute eine notwendige Bedingung wirtschaftlicher Stabilität und demokratischer Resilienz.

Ein weiterer Punkt ist die Transformation zur KI- und Wissensökonomie, die Menschen braucht, die Neues denken und gestalten. Qualitativ hochwertige MINT-Bildung sowie Anleitung zum Entrepreneurship in Schulen, eine moderne duale Ausbildung und exzellente Universitäten mit europäischen Forschungszusammenhängen sind zentrale Hebel.

Und schließlich: Innovationen entstehen viertens dort, wo Wagnis belohnt wird. Europa und Deutschland brauchen mehr Risikokapital, innovationsfreundliche öffentliche Beschaffung und steuerliche Anreize für Mitarbeiterbeteiligungen. Wenn Forschung schneller in Produkte übergeht und Start-ups leichter skalieren und tiefere Finanzmärkte mehr privates Kapital zur Verfügung stellen, kann Europa technologische Führungsrollen übernehmen.

Deutschland muss seine Wirtschaftskraft steigern und das am besten in enger europäischer Kooperation.

Prof. Dr. Daniela SchwarzerVorständin, Bertelsmann Stiftung

Von der Hyperglobalisierung zur Glokalisierung

Die Ära grenzenloser Globalisierung ist vorbei. Die Weltwirtschaft ordnet sich neu –industriepolitische Konkurrenz und wachsende sicherheitspolitische Verwundbarkeit führen zum Ausbau regionalerer Lieferketten. Die Vollendung des Binnenmarkts für Kapital und Dienstleistungen ist überfällig, ebenso modernisierte Netze und ein integrierter europäischer Energiemarkt, eine koordinierte Industriepolitik und die Harmonisierung von Unternehmensrecht. Europa muss lernen, strategisch zu handeln – vor allem in den Bereichen Energie, Technologie und Sicherheit. Souveränität entsteht nicht durch Abschottung, sondern durch Handlungsfähigkeit auf globalem Niveau.

Deutschlands Moment

Deutschlands marode Brücken, überlastete Schienen und Funklöcher stehen sinnbildlich für ein Land, das sich zu lange ausgeruht hat. In dem sich Großprojekte wie der Bau von Stromtrassen oder die Erneuerung von Bahnstrecken über viele Jahre, sogar Jahrzehnte ziehen. Dies ist unter heutigen Rahmenbedingungen inakzeptabel: Eine moderne Infrastruktur, eine digitale, schnelle Verwaltung und ein schlankeres, innovationsfreundliches Steuersystem dürfen keine abstrakte Vision mehr sein, sondern müssen Voraussetzung für wirtschaftliche und soziale Stabilität sein. Der Übergang von der Standortkrise zum strategischen Neuanfang ist möglich, wenn Deutschland bürokratische Trägheit abschüttelt und sich Gestaltungskraft zurückholt. Die Stärken hierfür hat das Land:

Deutschland verfügt über industrielles Know-how, starke Forschung und reiche Datenbestände – und damit über die Grundlagen neuer Wettbewerbsfähigkeit. Doch sie entfalten sich nur, wenn Kapital mobilisiert und eine Mentalität des Ermöglichens wächst – nicht nur in Regierung und Verwaltung, sondern auch in der Wirtschaft, im Bildungssystem, in der Zivilgesellschaft. Wenn Leistungsorientierung, digitale Kompetenz und Transparenz Leitprinzipien des Handelns werden und der Staat wieder Partner statt Bremser der Transformation wird, kann Deutschland seine industrielle Stärke erneuern.

Der Übergang von der Standortunsicherheit zum strategischen Aufbruch ist möglich, für Deutschland und Europa. Dafür braucht es Mut zur Veränderung und das Bewusstsein, dass wirtschaftliche Stärke die Voraussetzung politischer und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit ist. Wenn Deutschland und Europa gemeinsam investieren, reformieren und führen, kann „Made in Europe“ für eine starke gemeinsame Zukunft stehen.

Bild: © Sebastian Pfütze

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