Der Homo Bureaucraticus als Homo Ludens gedacht, oder: Zeit für Gaming-basiertes GovTech

Bei allen Differenzen und Diskursen zu GovTech ist doch 2024 eines vollkommen konsensfähig: Die „Modernisierung der öffentlichen Verwaltung [ist] zu einer Frage der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und unserer Demokratie geworden“, wie es ein Manifest vieler wesentlicher Akteure aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, und Politik vor einiger Zeit formulierte.

Ebenso dürfte Konsens sein, dass die seitdem hinzugekommenen (Poly)Krisen – oder vielmehr deren zunehmende Sichtbarkeit – sowie der gegenwärtige Systemwettbewerb Demokratie vs. Autokratie die Bedeutung einer modernisierten öffentlichen Verwaltung nur noch unterstreichen. Auch wenn diese Nachricht für manche überraschend klingen mag: Gaming – also Videospiele und deren Derivate – offenbart einen Lösungsansatz. Wie nirgends sonst fallen im Gaming die Entwicklung, Prototypisierung, und Skalierung von Zukunftstechnologien mit kritischen Praktiken technologie-affiner Communities zusammen – und das im reichweitenstärksten Medium unserer Zeit. In dieser Gleichzeitigkeit von digitalen Technologien und „digital-born“ Kulturtechniken bietet die Berücksichtigung der Ressource Gaming einmalige Chancen für die Modernisierung unserer Verwaltung – während die Ignoranz gegenüber Gaming enorme Risiken birgt.

Gaming meets strategic foresight

Eine gelingende „Strategische Vorausschau“ ist eine notwendige, wenngleich noch nicht hinreichende Bedingung für das erfolgreiche Handeln aller Ebenen der Verwaltung. „Klimawandel, digitale Technologien und Geopolitik haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Europa. Diese Veränderungen finden auf allen Ebenen statt – von der Kommunalpolitik bis hin zu globalen Machtstrukturen.“, formulierte die Europäische Kommission vor einem halben Jahrzehnt die Herausforderung – und richtete eine Runde der sogenannten „Minister für die Zukunft“ aller Mitgliedstaaten ein, die dadurch ihre eigenen Fähigkeiten zur „strategic foresight“ ausbauen sollen. Die Berücksichtigung von Gaming erweitert diese Fähigkeiten nun gleichermaßen massiv und unaufwendig – und kann so den Ausschlag dafür geben, ob die „Strategische Vorausschau“ unserer Verwaltung insbesondere im Hinblick auf „digitale Technologien“ rechtzeitig und umfassend genug stattfindet. „Videospiele [..,] sind ein relevantes Phänomen für die Außenpolitik geworden: Als Dimension im Wettbewerb der Narrative und unserer Auswärtigen Kultur- & Bildungspolitik, aber zugleich auch durch ihre Auswirkungen auf Technologieaußenpolitik oder die Digitalisierung von Verwaltung.“, begründete das Auswärtige Amt vor zwei Jahren die intensivierte Beschäftigung mit Gaming. Während diese These für manche Bereiche – wie z. B. die „Extended Reality“ (also VR, AR, MR, und das Kontinuum dazwischen), die Gaming-basierten (Proto-) Metaverses (wie Minecraft, Fortnite, Roblox), und auch die Blockchain (auf der schon viele Jahre gespielt wurde, ehe sie erstmals in Stellungnahmen und Strategiepapieren von Think-Tanks oder Regierungen auftauchte) – naheliegend erscheint, bedarf es bei anderen GovTechrelevanten Technologien einer Kontextualisierung. Im Folgenden zwei Beispiele:

1. Künstliche Intelligenz

Während der „Durchbruch von OpenAI“ – so das MIT Technology Review – für viele Beobachter „gefühlt über Nacht“ kam, war er doch für Gamer keine Überraschung: Von 2016 bis 2019 entwickelte OpenAI einen Bot namens „OpenAI Five“, der den beliebten eSport-Titel „Dota 2“ zu spielen lernte. Schon 2017, während des größten Dota 2 – Turniers „The International“, gewann der Bot schließlich sämtliche seiner Matches gegen führende Spieler – ein Ereignis, das weltweit für Aufmerksamkeit in den Gaming-Communities sorgte. Berücksichtigt man, dass OpenAI seinen Dota 2 – Bot selbst als „a research platform for general-purpose AI systems“ beschrieben hat, wird anhand der Chronologie schnell deutlich: Wer um die Heimat von Zukunftstechnologien im Gaming weiß, hätte bereits 2017 von OpenAI erfahren können – und damit dann entscheidende Jahre (!) gewonnen, um sich – ganz im Sinne von „strategic foresight“ – auf ChatGPT vorzubereiten. Ein Bericht des britischen Verteidigungsministeriums warnte übrigens schon 2018, dass die breite Verfügbarkeit von KI-Technologien durch moderne Videospiele auch geeignet sein könnte, verschiedenen Akteuren den Aufbau offensiver Cyberkapazitäten zu ermöglichen, denen dafür bisher die Ressourcen oder der Zugang gefehlt hatte.

2. Quantentechnologien

Vor einem Jahr initiierte der GovTech Campus Deutschland einen „Quantum Government Circle“, und erklärte dazu: „Germany would be well advised to strategically tap the potential importance of quantum for public administration.“ Diese Einschätzung deckt sich denen der Europäischen Kommission, die kürzlich Quantentechnologien als eine der vier relevantesten Technologien für unsere Souveränität und Sicherheit klassifizierte, und mit denen der Bundesregierung, wie sie vor einigen Monaten im „Handlungskonzept Quantentechnologien“ vorgelegt wurden. Auch, wenn es bei den Quantentechnologien der zweiten Generation um weit mehr (und z. T., beispielsweise bei Quantensensoren, um zeitlich wesentlich früher wirkungsvolle) Technologien als „nur“ um Quantencomputer geht, stehen diese doch meistens im Zentrum gegenwärtiger Strategien. Und wie schon bei der (schwachen) Künstlichen Intelligenz ließen sich entscheidende Jahre für die eigene „Strategische Vorausschau“ dadurch gewinnen, dass man sich über die Trends und Themen der Gaming-Welt(en) informiert hält: Schon vor einem halben Jahrzehnt mutmaßte das Technologie- Magazin WIRED, „Quantum games could be the first area to achieve quantum advantage.“ Zwei Jahre zuvor, 2017, hatte ein gemeinsames Team von IBM und der Universität Basel das weltweit erste Videospiel auf Quantencomputer-Basis veröffentlicht.

Gaming und die Ansprüche an die Verwaltung im 21. Jahrhundert

Zu den Forderungen des Manifests für eine moderne Verwaltung gehören auch „Verwaltungsprozesse für eine digitale Welt [zu] designen“ und „Modernes Personalmanagement“. Beide Forderungen stehen in starken Wechselwirkungen zu der Tatsache, dass Gaming die meistgenutzte Kulturtechnik unserer Zeit ist: Allein in Deutschland spielt die Hälfte der Bevölkerung in irgendeiner Form digital. Viele Entscheidungsträger (nicht nur) in Verwaltung und Politik stehen Gaming dennoch weiterhin leidenschaftslos bis skeptisch gegenüber. Man kennt die Namen einiger Videospiele, wundert sich über deren gesamtgesellschaftliche Präsenz, aber das Interesse an der Szene bleibt gering. Doch Gamer sind schon jetzt Mitarbeiter, „Kunden“ und Besucher der Verwaltung, und darüber hinaus beispielsweise als Wähler oder ehrenamtliche Helfer in Verwaltungshandeln involviert. Deren Erwartungshaltung an Bewerbungs-, Beteiligungs- und Feedbackprozesse werden massiv von ihrer Sozialisation als Gamer geprägt. Um das praktisch zu verdeutlichen: Wer gewohnt ist, permanent in Echtzeit multiperspektivische Rückmeldungen zum eigenen Handeln, gestalterisch ansprechend, hierarchieagnostisch, und als motivatorische Lernreise angelegt – der wird kaum ein jährliches Feedbackgespräch als Nonplusultra von Führung begreifen. Der hieraus folgende Schluss liegt nahe: Sowohl im Austausch mit der Bevölkerung, als auch in der Mitarbeitergewinnung, -bindung, und -entwicklung lohnt es sich für jede Ebene der Verwaltung, ihre GovTech-Prozesse am Gaming entlang zu konzipieren und zu gestalten. Ein Blick in die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft zeigt, wie groß der Nutzen sein kann: Bei Porsche helfen Game-Engines bei der Entwicklung neuer Fahrfunktionen, bei Otto hat eSports Einzug in das Betriebssportprogramm gehalten, mit von der BARMER geförderten Videospielkonsole „memore- Box“ – zugleich ein Medizinprodukt – wird Deutschlandweit in hunderten Pflegeheimen gespielt, die SOS Kinderdörfer gehören mittlerweile dank ihres eSport- Turniers „Cup der Dörfer“ zu den Pionieren in der Nutzung des philanthropischen Potenzials von Gaming. Für den produzierenden Mittelstand forderte das Manager Magazin schon 2015 „Holt die Gamer an die Maschinen!“, denn: „Der deutsche Maschinenbau hat ein Problem. Von der Funktionalität sind viele Produkte ähnlich gut. In Zukunft werden die Bedienung und die Nutzererfahrung über die Wettbewerbsfähigkeit von Werkzeugmaschinen entscheiden. Damit kennen sich Spielentwickler am besten aus.“ Diese Herleitung und diese Frage ist unverändert aktuell – und wohl für die meisten GovTech-Projekte ebenso anwendbar. Sie kann beantworten, wer sich mit den Chancen und Risiken von Gaming beschäftigt, sich mit ihren Praktikern – oft im eigenen Haus zu finden! – und Forschenden vernetzt, und sich so eine „Extended Gaming Literacy“ aufbaut.

Herzlichen Dank an Dr. Christian Stein und Adalbert Pakura

 

Die Berücksichtigung der Ressource Gaming bietet einmalige Chancen für die Modernisierung unserer Verwaltung – während die Ignoranz gegenüber Gaming enorme Risiken birgt.

Manouchehr ShamsriziGründer, Gaming-Experte, Politikberater
Das aktuelle Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „GOVERNMENT TECHNOLOGY“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
Zum Journal