Artikel aus dem Handelsblatt Journal HEALTH vom 07.11.2023
Läuten Digitalstrategie und neue Digitalgesetze endlich eine digitale Gesundheitsversorgung ein?
Endlich ist Bewegung drin: Eine Digitalstrategie, zwei Digitalgesetze und ein angekündigtes Gesetz zur Transformation der gematik in eine Digitalagentur liegen auf dem Tisch. Was bringt uns das? Wo muss noch nachgebessert und weiterentwickelt werden?
Am 20. März 2023 war es soweit: Die Digitalstrategie hat nach mehreren Monaten intensiver Beratung das Licht der Welt erblickt. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Es ist gelungen, viele unterschiedlichen Perspektiven einzubinden, ohne dass es am Ende eine weichgespülte Strategie nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner wurde. Endlich hat auch das deutsche Gesundheitswesen eine richtungsweisende Digitalstrategie
Wo besteht noch Weiterentwicklungsbedarf?
Die sechs Abschnitte der Strategie sind unterschiedlich konkret und verbindlich gehalten. So überraschen die sehr konkreten messbaren Ziele, wie etwa zum digitalen Reifegrad von Kliniken. Dagegen sind Aufklärung, Verbesserung der digitalen Gesundheitskompetenz und auch Einbindung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe vage gehalten. Die größte „Lücke“ aber stellen die fehlenden Versorgungsziele dar. Versorgungsziele sind wichtig, um Akzeptanz für die Aktivitäten zur digitalen Transformation zu erhöhen und um den Erfolg der Maßnahmen messen zu können. Denn wie schon Charles Baudelaire wusste: Nichts existiert ohne Ziel.
Mit der Digitalstrategie sollte es sich wie beim Mannschaftssport verhalten: Nach der Strategie ist vor der Strategie. Bei der Digitalstrategie 2.0 sollten Versorgungsziele Eingang finden. Auch wenn das methodisch herausfordernd ist: Andere Länder haben es schließlich auch hinbekommen.
Mit der Strategie wurden ebenfalls mehrere Digitalgesetze angekündigt. Im Juni wurden dann die Referentenentwürfe für das Digitalgesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) publik.
Halten die Digitalgesetze, was die Digitalstrategie versprach?
Nachdem bereits in der Digitalstrategie der Bundesregierung 2022 das Opt-out bei der elektronischen Patientenakte mit einer Nutzerquote von 80 % als Zielmarke propagiert wurde, überraschte es niemanden, dass das Opt-out bei der ePA ein zentraler Kernpunkt der Digitalgesetze wurde.
Begrüßenswert: Mit der „ePA für alle!“ soll 2025 auch ein verpflichtendes Medikationsmanagement kommen. Nach Auskunft der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages kommt es in Deutschland aufgrund von Medikationsfehlern jährlich zu 500.000 vermeidbaren Klinikeinweisungen. Im teuersten Gesundheitssystem Europas ist es auch im Jahr 2023 noch die Regel und nicht die Ausnahme, dass Ärzte nicht wissen, ob und was andere Ärzte bereits verordnet haben. Rechtfertigen lässt sich das schon lange nicht mehr – zumal der Ausgangspunkt aller Digitalisierungsbemühungen vor 22 Jahren ein Arzneimittelskandal (Lipobay) war. Zurzeit würden wir einen solchen Arzneimittelskandal keinen Tag früher erkennen können. Die Gesundheitspolitik wird sich 2025 daran messen lassen müssen, ob das Versprechen der Arzneimitteltherapiesicherheit 24 Jahre später endlich eingelöst wird.
Angesichts der betrüblichen Erfahrungen mit Digitalisierungsprojekten und Anwendungen in den letzten beiden Jahrzehnten, die kaum jemand nutzen konnte oder wollte, sollte aber gelten: Das Medikationsmanagement darf kein technokratischer Selbstzweck sein, sondern muss nutzerorientiert und mit einem spürbaren Mehrwert für Behandelnde und Versicherte in der Versorgung umgesetzt werden.
Auch die im Digitalgesetz verbindliche Nutzung des elektronischen Rezeptes zum 1.1.2024 war wenig überraschend. Ob in allen Arztpraxen Anfang 2024 Arzneimittelverordnungen nur noch elektronisch ausgestellt werden, darf allerdings bezweifelt werden. Stand Anfang Oktober stellen noch immer neun von zehn Praxen Rezepte analog aus. Probleme bereitet den Praxen derzeit vor allem die mangelhafte Umsetzung des eRezepts in den Praxisverwaltungssystemen.
Eine weitere an sich positive Neuerung, die Ende Juni im Zusammenhang mit dem eRezept eingeführt wurde, zeigt: Wir brauchen nicht nur eine digital vernetzte Versorgung, sondern auch ein vernetztes ordnungspolitisches Handeln bei der Vergütung. Denn seit Juni 2023 ist es Praxen möglich, eine Mehrfachverordnung auszustellen. Patient:innen können somit mit nur einem Praxiskontakt für ein Jahr ihre Dauermedikation erhalten – theoretisch. Denn Ärzt:innen kündigten an, dies schlicht zu ignorieren, da die Praxen auf die Quartalspauschale angewiesen seien. Dieser Fall zeigt: (Digitale) Neuerungen sollten nicht als Stückwerk eingeführt, ohne dass diese mit Versorgungs- und Vergütungsaspekten mitgedacht und verknüpft werden.
Innovationsfonds: Aus einem Milliardengrab eine Quelle für bessere Versorgung machen
Die in den Digitalgesetzen geplanten Änderungen beim Innovationsfonds sind sinnvoll, aber reichen bei weitem nicht aus. Seit sieben Jahren werden Projekte gefördert, die selbst bei sehr erfolgreicher Bewertung nicht in der Regelversorgung ankommen. Meine Forderung ist daher: Lasst uns die Logik umkehren. Erfolgreich abgeschlossene und positiv evaluierte Innovationsprojekte aus dem Bereich Neue Versorgungsformen werden zukünftig automatisch Teil der Regelversorgung. Damit käme Bewegung in die Selbstverwaltung und Innovationen würden endlich in der Gesundheitsversorgung ankommen.
Denn die Selbstverwaltung hat die ursprüngliche Aufgabe noch immer nicht erfüllt: Klare Kriterien und Wege für die Überführung in die Regelversorgung zu definieren. Wir benötigen im deutschen Gesundheitswesen definitiv nicht noch mehr zeitlich und räumlich begrenzte Projekte, die im Sande verlaufen und nicht aufeinander aufbauen.
Gesundheitsdaten können endlich für die Verbesserung der Gesundheit genutzt werden
Mit dem zweiten Digitalgesetzt, dem GDNG, wurde endlich eine Grundlage für die Nutzung von Gesundheitsdaten in Deutschland geschaffen. Aus versorgungsund gesundheitswirtschaftlicher Hinsicht war das längt überfällig: Wir haben zwar sehr gute Daten, deren Nutzung und Zusammenführung scheitert aber regelmäßig an endlosen Diskussionen mit verschiedenen Datenschützern.
Das GDNG schlägt auch eine wichtige Brücke zu anderen EU-Ländern: Viele Länder sind sowohl bei der Primär- als auch der Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten schon sehr weit, wie ein Blick auf www.health. ec.europa.eu zeigt. Mit dem GDNG hat Deutschland die Möglichkeit, aufzuschließen. Bei der Primärnutzung, die es bspw. Spanier:innen erlaubt, eine:n Ärzt:in in den Niederlanden in die ePA schauen zu lassen, oder Finn:innen in Polen ein eRezept einzulösen, sind wir noch sehr weit entfernt. Auch bei der sekundären Datennutzung sind viele Länder weiter. Das GDNG ermöglicht es uns nun endlich, die Aufholjagd zu beginnen!
Sind Krankenkassen die besseren Ärztinnen?
Eine Neuregelung im GDNG, die zurecht für erhebliche Irritationen gesorgt hat, darf hier nicht unerwähnt bleiben: Nach dem Willen der Bundesregierung dürfen Krankenkassen nach §25b SGB V zukünftig datengestützte Auswertungen vornehmen und Versicherte bei „Gesundheitsgefährdung“, z. B. bei der Erkennung von Krebs, informieren bzw. warnen.
Dazu stellen sich eine ganze Reihe von Fragen:
- Wann liegt eine Gesundheitsgefährdung vor?
- In welchen Fällen und auf welcher Datengrundlage werden Versicherte informiert?
- Auf welche Art und Weise geschieht des?
- Wie sieht die Nachbetreuung aus, wenn Versicherte die Information erhalten haben, dass eine Gesundheitsgefährdung vorliegt?
Es wäre sicher nicht zum Wohl der Versicherten, wenn die über 90 gesetzlichen Krankenkassen dies auf eigene Faust umsetzen. Man stelle sich einmal vor: Sie bekommen schriftlich mitgeteilt, dass Sie an Krebs leiden. Es ist unbedingt anzuraten, das Vorgehen inhaltlich-methodisch mit Gesundheitsdatenanalysten und Expert:innen für Gesundheitskommunikation zu erarbeiten. Das neu angekündigte Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) sollte ein einheitliches methodisches Vorgehen entwickeln.
In jedem Fall sollte eine unabhängige Evaluation die Umsetzung dieser Regelung kontrollieren und transparent machen. Im Missbrauchsfall sollte die Regelung umgehend abgestellt werden. Es wäre besser gewesen, diese Regelung als Opt-in umzusetzen.
Denn: Erfahrungen, die das Bundesamt für Soziale Sicherung und die Unabhängige Patientenberatung gemacht haben, zeigen, dass Krankenkassen nicht unbedingt zum Wohl ihrer Versicherten agieren. Einige Krankenkassen verweigern beispielsweise, ärztliche Verordnungen von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) einzulösen. Oder Versicherte werden systematisch zur Rücknahme von Widersprüchen bei abgelehnten Leistungen genötigt.
Über mögliche Gesundheitsgefährdung sollten daher (Haus-)Ärzt:innen aufklären. Zumal eine aktuelle Forsa-Studie zeigt, dass die Bevölkerung die Kompetenz für gesundheitliche Fragen bei Ärzt:innen mit 93 % aber bei Krankenkassen mit nur 9 %. bewerten.
Digitalagentur hat nur mit neuem Governance-Verständnis Sinn
Mit Spannung wird das Gesetz zur Transformation der gematik in eine Digitalagentur erwartet. Eines steht dabei fest: Die bisherige Unklarheit bei Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten bei der Digitalisierung muss beseitigt werden, das Prinzip „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ muss ein Ende haben.
Die gematik sollte zukünftig als starke und eigenständigen Digitalagentur mehr Beinfreiheit bekommen, um nützliche und vor allem an den Bedarfen der Anwender: innen orientierte Anwendungen zu konzipieren und zu entwickeln. Allerdings muss sie dann auch die volle Verantwortung übernehmen.
Die Ordnungspolitik muss sich dafür von der Wasserfall- Methodik lösen, wonach ein digitales Produkt komplett zu Ende definiert und dann stur per Lastenheft abgearbeitet wird. Digitale Anwendungen und vor allem Einzelfunktionalitäten für Jahre im Voraus zu determinieren, wird nie zu intuitiven und nützlichen Anwendungen führen. Der Digitalagentur muss die Freiheit gegeben werden, Anwendungen und Funktionalitäten jenseits von direkten Einflüssen der Politik und Einzelinteressensvertreter:innen zu entwickeln. Dafür muss die bisherige Vorgehensweise umgedreht werden: Zukünftig entwickelt die neue Digitalagentur Anwendungen. Erst am Ende (und nicht am Anfang) schafft der Gesetzgeber den Rahmen für die Implementierung in die Versorgung. Ich persönlich hoffe sehr, dass die Politik den Mut hat, diesen Switch bei der Governance zu vollziehen.
Darüber hinaus muss bei der Umgestaltung der gematik dafür gesorgt werden, dass in Produktteams sowohl die Public Health-Perspektive als auch die Sichtweise des geplanten Anwenderkreis repräsentiert ist. Apropos Anwenderperspektive: Dass der zukünftige Digitalbeirat mit dem Bundesamt für Informationstechnologie und dem Bundesdatenschutzbeauftragten auch für Nutzerorientierung sorgen soll, ist hoffentlich nur ein schlechter Witz. Die gematik der Zukunft braucht vielmehr eine Art Anwenderforum. Heilberufe aus der Praxis und Bürger:innen sollten über dieses Forum bei Konzeption und Einwicklung digitaler Produkte permanent eingebunden werden.
Ein Blick von außen ist immer hilfreich
Schon wieder Skandinavien? Ja! Eine Vertreterin eines finnischen Digitalprojekts, die auch lange im deutschen Gesundheitssystem gearbeitet hat, antwortete auf die Frage, warum Deutschland im Vergleich zu Finnland und anderen skandinavischen Ländern bei der Digitalisierung so weit hinten liegt: „Mir fällt auf, dass am Ende immer der kleinstmögliche Kompromiss als Ergebnis von Einzelinteressen übrigbleibt. Wir haben auch unterschiedliche Interessenvertreter, aber wir versuchen gemeinsam, gute Lösungen zu entwickeln.“ Mein Appell: Lasst uns etwas finnischer denken und handeln und zusammen an guten Lösungen arbeiten!
Alle Beteiligten haben es mit in der Hand, ihren Beitrag zum Erfolg zu leisten. Sei es durch kritisch-konstruktive Begleitung der gesundheits- und digitalpolitischen Entwicklungen oder aktive Mitgestaltung der Vorhaben. Dann kann aus unserem chronisch verspäteten digitalen Bummelzug mit zahlreichen Schienenersatzverkehrsabschnitten vielleicht doch noch ein leistungsfähiger Hochgeschwindigkeitsexpress werden.