Wie Insurtechs das Tech-Monopoly der Versicherungswelt befeuern

Wie Insurtechs das Tech-Monopoly der Versicherungswelt befeuern

Insurtechs sind angetreten, um die 5 Trilliarden Dollar schwere Versicherungsindustrie auf den Kopf zu stellen. Der radikale Umsturz? Lässt noch auf sich warten. Doch das Tech-Monopoly der Versicherungsbranche hat bereits begonnen.

von Christian Wiens

Der Status quo ist schnell zusammengefasst: Etablierte Versicherer kämpfen mit ihrem Ruf, veralteten Prozessen, undurchsichtigen Produkten und einer enttäuschenden Kundenerfahrung. Bis heute hat die Branche kein modernes und mobiles Kundenerlebnis geliefert, das viele Versicherungskunden – nicht erst seit der Coronapandemie – erwarten.

Das ist überraschend, wenn man bedenkt, dass die größten globalen Versicherungsunternehmen riesige Konzerne mit einem Jahresumsatz von jeweils weit über 100 Milliarden Dollar sind (und damit in der gleichen Liga spielen wie Amazon, Apple oder Facebook). Zwar arbeiten immer mehr Versicherer an der Option einer Online-Police oder einer App, doch mit einem halbherzigen Versuch, papierbasierte Produkte ein bisschen digitaler zu machen, ist es nicht getan.

Ebenfalls bemerkenswert: Obwohl viele große Versicherungskonzerne in vielen Ländern der Erde aktiv sind, sind die jeweiligen Produkte und Vertriebsstrukturen lokal. Ein globaler Versicherungsplayer – bislang Fehlanzeige.

Technologie für globale Lösungen fehlt
Grund dafür sind neben einem Flickenteppich unterschiedlicher und inkompatibler Hard- und Software auch festgefahrene Denkweisen und eine Konkurrenz von innen. Konzerne wie die Allianz, die mit eigenen Versicherungsvertretern arbeiten, haben es deutlich schwerer, digitale Produkte anzubieten, die in direkter Konkurrenz zum eigenen Vertriebskanal stehen. Lange Entscheidungswege und starre Hierarchien tun ihr Übriges, um die Einführung digitaler Lösungen auf die lange Bank zu schieben. Die Folge: Die wenigsten Versicherer besitzen ein modernes IT-System, das es erlauben würde, Kundendaten über die gesamte Vertragslaufzeit und alle Schnittstellen zu bündeln.

Anlass für Insurtechs, die Branche mit Hilfe von Technologie umzukrempeln. Der Markt konsolidiert sich: Nach einer großen Aufregung vor etwa vier Jahren sehen Versicherer die aufstrebenden Insurtechs als mögliche Partner; die Zeichen stehen auf Kooperation statt Konfrontation. Gleichzeitig kristallisiert sich eine Handvoll gut finanzierter, ernstzunehmender Insurtechs heraus, die mit eigener Lizenz einen unabhängigen Weg verfolgen.

Versicherung global und ganzheitlich denken
Eine Untergruppe der Insurtechs bilden die sogenannten Neoversicherer. Zu diesen Neoversicherern zählen unter anderem das deutsche Getsafe, das US-amerikanische Lemonade, das französische Luko oder das schwedische Hedvig. Sie fokussieren sich nicht auf einzelne Produkte (wie etwa Bought by Many oder Metromile) und sie verstehen sich nicht als digitaler Makler (wie etwa wefox oder Clark). Stattdessen verfolgen Neoversicherer einen Plattformansatz ähnlich wie Netflix, Uber und AirBnB, der es ihnen möglich macht, Versicherung ganzheitlich zu denken und gleichzeitig global zu skalieren. Sie planen, alle gängigen Versicherungsprodukte aus einer Hand anzubieten – aber eben angepasst auf die Bedürfnisse einer digitalen Zielgruppe.

Ihr Vorteil: Neoversicherer haben ihre Unternehmen (wie alle Insurtechs) auf der grünen Wiese gegründet, mit einem modernen Tech-Stack, das es ihnen erlaubt, Vertrieb und Kundenreise vollständig zu digitalisieren. Ihre Plattformen sind in der Lage, alle Prozesse für alle Arten von Versicherungsprodukten in Echtzeit und über mehrere Länder, Währungen und Sprachen hinweg abzubilden, und das zu inkrementellen Kosten. Ein Ansatz, der schnelles Wachstum ermöglicht und damit die Idee eines globalen Versicherers in greifbare Nähe rückt.

Umsturz auf Raten durch Neoversicherungen
So erleben wir derzeit keine laute Revolte gegen die etablierten Konzerne, sondern einen schleichenden Umsturz auf Raten. Im Gegensatz zur Bankenbranche gab es bei Versicherern keine Krise, die ein schnelles Umdenken erforderlich gemacht hätte. Der durchschnittliche Kunde ist 50 Jahre alt und wird seine Beiträge noch 30 oder 40 Jahre zahlen. Selbst die Coronapandemie geht an Versicherern relativ unbeschadet vorüber. Versicherung ist ein langfristiges Geschäft – es gibt keinen dringenden Bedarf, sich zu verändern.

Insurtechs, die hier bestehen wollen, brauchen einen langen Atem und ein langfristiges Geschäftsmodell, das liegt in der Natur von Versicherung. Und doch muss sich die Versicherungsbranche von morgen radikal verändern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Große Tech-Konzerne wie Google oder Amazon drängen ebenso in den Versicherungsmarkt wie Finanzdienstleister; und auch Tesla, Daimler oder Ikea bieten produktspezifische Versicherungslösungen an. Das Tech-Monopoly der Versicherung – es hat bereits begonnen. Die Neoversicherer können den Weg weisen.

Neoversicherer planen, alle gängigen Versicherungsprodukte aus einer Hand anzubieten – aber eben angepasst auf die Bedürfnisse einer digitalen Zielgruppe.

Christian Wiens, CEO und Mitgründer von Getsafe

Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Versicherung“ erschienen.
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