Strom im Überfluss, Preise zu hoch? – Was für ein Energiesystem die Industrie jetzt braucht

Wir erleben ein Paradox: Erneuerbare Energie ist immer häufiger im Überfluss vorhanden und dennoch zahlt die Industrie Rekordpreise. Dort, wo Wind- und Solarstrom anfallen, ist das Netz überlastet; dort, wo die Nachfrage groß ist, fehlen flexible Wege der Nutzung.

Gebühren, Umlagen und Bürokratie vergrößern die Schere weiter: Sie machen Nutzung teuer, komplex und setzen falsche Anreize in Zeit und Raum.

Wenn wir den Industriestandort sichern wollen, müssen wir das System so umbauen, dass Verfügbarkeit, Nutzung und Preis wieder zusammenfallen. Das Leitmotiv dafür lautet: Nutzen statt Abregeln und gedacht wird über Strom, Wärme und Moleküle hinweg.

Denn nicht allein der Ausbau, sondern vor allem die intelligente Nutzung bestehender Infrastrukturen entscheidet darüber, wie viel erneuerbare Energie tatsächlich zum Einsatz kommt. Die oft missverstandene „Überbauung der Netze“ bedeutet nicht, dass Netzausbau überflüssig wäre, sondern dass wir bestehende und neue Anschlüsse intelligenter auslasten müssen. Integrierte Energiesysteme eröffnen Potentiale für die Netznutzung, die eben nicht aus Eins plus Eins gleich zwei machen, sondern die Netzkapazität deutlich erhöhen.

Wir werden weiterhin leistungsfähige Übertragungs- und Verteilnetze brauchen. Aber solange Netzausbau und Genehmigungen Jahre beanspruchen, dürfen Netze nicht zum Taktgeber von Wertschöpfung werden. Überbauung heißt für mich, Erzeugung bewusst über die heutige Anschlusskapazität hinaus zu dimensionieren und die unvermeidlichen Überschüsse vor Ort intelligent zu verwerten: durch Power–to-Heat- für Prozesswärme, durch Elektrolyse zur Herstellung grüner Moleküle, durch Speicher und durch flexible Verbraucher.

Das Netz bleibt Brücke und Rückfallebene aber nicht länger der Flaschenhals, der entscheidet, ob Energie zu Wertschöpfung wird oder als Abregelung verloren geht.

Aus der Praxis bei ENERTRAG weiß ich: Wir haben großes ungenutztes Potential. Wenn wir Erzeugung, Nutzung und Umwandlung erneuerbarer Energie systemisch planen, können wir die Abregelung deutlich reduzieren und schaffen verlässliche, wettbewerbsfähige erneuerbare Strom- und -wärmeangebote für industrielle und kommunale Abnehmer.

Ein Zusammenspiel aus Wind- und Solaranlagen, das in wind- und sonnenreichen Stunden eine Power-to-Heat-Anlage sowie Wärmepumpen versorgt, ermöglicht die direkte Bereitstellung erneuerbarer Wärme. Dadurch ersetzen wir fossile Prozesswärme, senken CO₂-Kosten und entlasten gleichzeitig das Stromnetz.

Wird zusätzlich ein Elektrolyseur integriert, entstehen grüner Wasserstoff für nicht direkt elektrifizierbare Anwendungen und Abwärme, die wiederum genutzt werden können. Solche Kopplungen erhöhen die Effizienz und Resilienz, weil mehrere Verwertungspfade zur Verfügung stehen und Lastspitzen geglättet werden.

Doch selbst das beste Systemdesign bleibt wirkungslos, wenn die Preissignale nicht stimmen. Heute resultiert ein erheblicher Teil der Endkundenpreise aus Netzentgelten, Steuern, Umlagen und Transaktionskosten und zwar weitgehend unabhängig davon, ob die Abnahme das System entlastet oder belastet. Ein Unternehmen, das lokal erzeugte Überschüsse in Wärme oder Moleküle umwandelt und damit Netzkilometer sowie Engpässe vermeidet, spart Systemkosten. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir im Rahmen der Netzreform die Netzentgelte so gestalten, dass sie systemdienliches Verhalten anreizen.

Sinnvoll ist eine Aufteilung in Arbeits- und Leistungskomponenten, die zeitliche und örtliche Signale setzen. In jedem Fall sind integrierte Energiesysteme wie oben beschrieben vorrangig ans Netz anzuschließen. Solche Signale fördern Investitionen in Flexibilität auf beiden Seiten – bei Verbrauchern und Erzeugern und machen aus „Überfluss zur falschen Zeit“ nutzbare Wertschöpfung.

Zweitens müssen regulatorische Hürden für Einsammelnetze und Direktleitungen fallen. Gerade in Industrie- und Gewerbegebieten lassen sich Erzeuger, Speicher und Verbraucher längst technisch verbinden, dennoch scheitern Projekte noch zu oft an bürokratischen Vorgaben, etwa strengen Anforderungen an „unmittelbare räumliche Nähe“ oder an die Abgrenzung gegenüber dem öffentlichen Netz. Entscheidend ist nicht eine starre Distanzvorgabe, sondern die Systemwirkung: Wenn die physische Verbindung nachweislich Netze entlastet, wenn Messung und Abrechnung transparent sind und wenn Schutz- und Regelkonzepte stehen, sollte ein solches Netz mit klaren Standards und digitalen Genehmigungsverfahren schnell realisierbar sein. Standardisierte Mess- und Abrechnungsmodelle, Netzanschlusskonzepte und verbindliche Fristen würden hier binnen weniger Quartale Wirkung entfalten.

Drittens braucht es ein Marktdesign, das Flexibilitätslösungen und den Wasserstoffhochlauf unterstützt und klare Anreize für Investitionen schafft. Auch hier geht es darum, die effizienteste Instrumentenkombination zeitlich begrenzt zu etablieren, damit staatliche Förderung und unternehmerische Investitionen maximale Wirkung entfalten können. Vor diesem Hintergrund halte ich eine verbindliche Wasserstoffquote für notwendig, um Nachfrage und Infrastruktur zu synchronisieren. Contract-for-Difference-Modelle (CfD) geben Investitionssicherheit für Elektrolyse und machen flexible Fahrweisen wirtschaftlich. Mit einer Kombination von Quote und CfD, die zeitlich für verlässliche Rahmenbedingungen sorgt, können die Wasserstoffkosten gesenkt werden. Denn dadurch sinken die Finanzierungskosten, und die Skalierung führt zu weiteren Kostensenkungen, die klimaneutrale Lösungen wettbewerbsfähig und industriepolitisch tragfähig machen. So entsteht langfristig Planungssicherheit für alle.

Wie kann eine zügige Umsetzung innerhalb der nächsten zwölf bis 36 Monate gelingen? Aus unserer Sicht ist es entscheidend, integrierte Energiesysteme mit Wind-, Solar-, Speicher- und Power-to-X-Technologien gezielt zu realisieren und regulatorische Hürden für deren Zusammenspiel abzubauen. Dafür braucht es klare, digitalisierte und standardisierte Genehmigungsverfahren, die insbesondere für typische Bausteine wie Power-to-Heat, Elektrolyse und Batteriespeicher Planungssicherheit schaffen. Ebenso sollten Netzentgelte und regulatorische Rahmenbedingungen so weiterentwickelt werden, dass sie die lokale Nutzung erneuerbarer Überschüsse und flexible Verbraucher*innen gezielt fördern. Investitionen in Flexibilität und Sektorenkopplung müssen sich wirtschaftlich lohnen, damit der industrielle Einsatz erneuerbarer Energien schnell skaliert werden kann. Aus unserer Erfahrung mit Projekten wie dem Verbbundkraftwerk Uckermark wissen wir, dass diese Ansätze innerhalb weniger Quartale Wirkung entfalten können, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Der Nutzen für die Industrie liegt auf der Hand: Wer in windreichen Stunden Prozesswärme oder Wasserstoff vor Ort erzeugt, senkt Brennstoff- und CO₂-Kosten, stabilisiert das Netz und macht sich unabhängiger von globalen Preisrisiken. So entstehen planbare Grünkostenprofile und lokale Wertschöpfung – ohne Belastung des öffentlichen Netzes.

All das ersetzt nicht den konsequenten Netzausbau, aber es ergänzt ihn sinnvoll und beschleunigt die Energiewende. Wir dürfen die nächsten Jahre nicht damit verbringen, auf Kabel zu warten und in der Zwischenzeit Energie ungenutzt zu lassen. Indem wir Überbauung zulassen, Einsammelnetze ermöglichen, Abregelung systematisch durch Nutzung ersetzen und Preissignale an Ort und Zeit ausrichten, bringen wir Markt und System wieder zusammen. Das Ergebnis sind niedrigere, verlässlichere Energiepreise für Unternehmen und Planungssicherheit für alle Beteiligten . Nicht, weil wir Kosten verschieben, sondern weil wir Systemkosten tatsächlich senken.

Was es jetzt braucht, ist die Klarheit eines einfachen Ordnungsrahmens: Wer lokal Überfluss nutzt und damit das System entlastet, zahlt weniger; wer Engpässe verschärft, zahlt mehr. Wer Flexibilität bereitstellt, erhält ein verlässliches Entgelt; wer Projekte standardisiert und digital genehmigt, kommt schneller ans Netz. Mit diesem Rahmen entsteht ein Energiesystem, das Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit nicht gegeneinander ausspielt, sondern miteinander verbindet.

Preise sinken, wenn wir Überfluss verfügbar machen. Das erreichen wir nicht durch einzelne Großprojekte, sondern durch das Zusammenspiel von systemischer Planung, einer flexiblen und innovationsfreundlichen Regulierung sowie gezielten Investitionen in Sektorenkopplung und Speichertechnologien.

Genau darüber möchte ich im Rahmen des Handelsblatt Industriegipfels sprechen, darüber, wie wir diese Prinzipien in konkrete Projekte übersetzen, die binnen weniger Quartale Wirkung zeigen.