Mehr Vertrauen in die Stärken des Standorts!

Es scheint, die Debatte zur Lage des Industriestandorts kennt nur zwei entgegengesetzte Positionen: Die eine Seite sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie beschwöre den Untergang des Industrielands herauf.

Artikel aus dem Handelsblatt Journal DIE ZUKUNFT DER INDUSTRIE vom 01.12.2023

Die andere Seite glaubt die Talsohle durchschritten und sieht sich auch durch die Milliardeninvestitionen in Zukunftstechnologien in der Hoffnung bestärkt, dass es bald wieder aufwärts geht. Aber es gilt: „Hope is not a strategy“.

Nein, Kassandrarufe eines abrupten Endes des Industrielands sind fehl am Platz – aber genauso wenig kann die Politik darüber hinwegsehen, dass viele Unternehmen bis weit in den regional verwurzelten Mittelstand berechtigte Existenzängste plagen. Die Lage des Standorts ist messbar schlecht und es ist daher nicht zu leugnen, dass die globale Wettbewerbsfähigkeit auf dem Spiel steht, wenn die Politik nicht jetzt handelt. Deutschland ist nach IWF-Prognosen das einzige fortgeschrittene Industrieland, das schrumpft. Zudem ist es das einzige EU-Mitglied, das sein Vor-Corona-Niveau nicht erreicht hat. Wir verlieren Weltmarktanteile, das ist die bittere Wahrheit – auch wenn Deutschland bislang immer noch den höchsten Industrieanteil am BIP mit 20,4 Prozent in Europa hat. Die Krisen der vergangenen Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, denn der Anteil lag im Jahr 2018 noch bei über 22 Prozent. Kurz: Die Situation macht derzeit nicht zuversichtlich.

Was sind die Ursachen? Der Krieg in der Ukraine löste einen Energiepreisschock aus. Oberstes Gebot ist, das Energieangebot auszuweiten – das kostet aber Zeit. Es brauchte eine akute Entlastung sowohl in der Spitze als auch in der Breite. In der Spitze bedeutet der Kompromiss zum Strompreispaket eine Akuthilfe durch eine verstetigte Strompreiskompensation, leider ist der Kreis mit rund 350 Unternehmen sehr eng definiert, wodurch Zukunftstechnologien außen vor bleiben. In der Breite werden rund 700 Tausend Unternehmen durch eine abgesenkte Stromsteuer entlastet. Der Kompromiss verschafft zumindest für fünf Jahre Planungssicherheit.

Es geht eben nicht darum, vermeintlich „alte“ Industrien ihrem angeblich wettbewerblichen Schicksal zu überlassen. Die Grundstoffindustrie steht am Beginn der Wertschöpfung. Wenn es hier bereits zu Brüchen käme, würde das die folgenden Stufen der Weiterverarbeitung und ganze Wertschöpfungsnetzwerke vom mittelständischen Familienunternehmen bis hin zum Großkonzern schwer beschädigen und damit eine maßgebliche Säule des Wohlstands und der Innovationskraft. Das ist jedoch längst nicht alles. Genauso wiegen seit Jahren vernachlässigte strukturelle Defizite immer schwerer. Der Standort ist stärker denn je gebremst durch überbordende Bürokratie, einem geringen Digitalisierungsgrad der Verwaltung und einen stetig zunehmenden Arbeit- und Fachkräftemangel. Zurzeit leben wir von der Substanz – es braucht einen Schub für nachhaltiges Wachstum.

Innovationskraft der Industrie gezielt stärken

Die Stärke der deutschen Industrie lag und liegt immer noch in ihrer Innovationsfähigkeit, denn: Wir haben Wettbewerbsnachteile durch hohe Kosten am Standort. Die Fähigkeit Spitzenprodukte auf den Weltmärkten konkurrenzfähig anzubieten, liegt in dem Mehr an Fortschrittlichkeit und Effizienz. Beispielhaft ist die Automatisierungstechnik und der Maschinenbau, bei denen unsere Ingenieurskunst weltweit hohe Anerkennung für ihre Technologieführerschaft findet. Unsere zukünftige Stärke liegt in der erfolgreichen Symbiose von industrieller Produktion und Digitalwirtschaft. Damit das auf dem Weg zur Klimaneutralität gelingt, braucht es mehr Planungssicherheit. Die Klimaschutzziele sind unstrittig, die Unternehmen stecken in der Transformation und wollen einen global wirksamen Beitrag leisten. Das kann nur gelingen, wenn Spitzenprodukte einen Gewinn für den Kunden darstellen. Als Exportnation können wir in der geopolitisch aufgeheizten Lage nur erfolgreich bestehen, wenn wir weiterhin Märkte mit unserem innovativen Know-How global bedienen können.

Wir müssen uns fragen: Wie können wir besser werden und ein internationales Abrutschen des Standortes verhindern? Eine Industriestrategie, die kein Alibi- Papier bleiben will, muss deshalb die konkrete Umsetzung in den Blick nehmen. Folgende Maßnahmen sind ein wesentlicher Teil der Antwort, wie die Unternehmen mehr Freiräume für Innovation und Forschung sowie Produktion hier am Standort erhalten.

Kaum ein Ballast wiegt schwerer und wäre zum Nulltarif

abzubauen wie die extreme bürokratische Belastung. Die ausufernden Berichtspflichten binden Ressourcen in Verwaltung und Unternehmen. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ist ein Paradebeispiel für diese Kultur des Misstrauens gegenüber unternehmerischer Tätigkeit. Gerade für den Mittelstand braucht es praxisgerechte Verfahren. Die Anerkennung von Brancheninitiativen wäre ein erster Schritt. Eine grundsätzlich vereinfachte und digitale Bürokratie ist vor allem für das angekündigte Deutschlandtempo in der Breite der Transformation unerlässlich. Die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren steht immer noch aus und muss sämtliche Infrastrukturvorhaben sowie auch Industrieanlagen einschließen. Bereits einfache Änderungen der Regulierung können eine große Wirkung entfalten: der vorläufige Baubeginn muss vereinfacht und Stichtagsregelungen eingeführt werden. Durch eine entfesselnde Regulierung und einer beschleunigten Transformation in der unternehmerischen Praxis kann der Standort global wettbewerbsfähig bleiben.

Chancen der Digitalisierung konsequent nutzen

Um die Potenziale der digitalen und grünen Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft voll zu entfalten, bedarf es eines Digitalisierungsschubs der öffentlichen Verwaltung. Neben einer nutzendenorientierten und volldigitalen öffentlichen Verwaltung ist ein innovationsfreundlicher Rahmen entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit des Innovations- und Industriestandortes Deutschland. Die EU-Regulierungsfülle – vom EU Data Act über den EU AI Act bis hin zur NIS-2-Richtlinie erhöht in Summe die Rechtsunsicherheit und erschwert die Datennutzung. Dadurch suchen sich Unternehmen andere Standorte, um in neue digitale Geschäftsmodelle zu investieren. Eine einheitliche Auslegung der DSGVO in der EU wäre ein erster wichtiger Schritt, Daten an unterschiedlichen Standorten nutzen zu können. Die Chancen digitaler Geschäftsmodelle gehören in den Mittelpunkt.

Potenziale des EU-Binnenmarkts ausschöpfen

Im geopolitischen Wettbewerb bestehen, heißt auch, einen vollendeten europäischen Binnenmarkt zur Top- Priorität zu machen. 713 Milliarden Euro Wertschöpfung bis 2029 werden durch nationale Barrieren blockiert. Dazu ist eine engere Koordinierung innerhalb der Bundesregierung notwendig, um Treiber der Binnenmarktintegration zu sein. Globalregel sollte sein, die EU-Gesetzgebung vollständig auf die Stärkung der grenzüberschreitenden unternehmerischen Tätigkeit auszurichten.

International anschlussfähig bleiben

Globale Wettbewerbsfähigkeit muss gleichzeitig damit einhergehen, strategische Abhängigkeiten auszuschalten. Resilienz vor Effizienz ist das Gebot der Stunde. Sowohl die Absatzmärkte als auch die Bezugsquellen für kritische Rohstoffe und Chips sind bisher mit einem großen Klumpenrisiko versehen. Politisch muss hier gegengesteuert werden. Mehr Freihandelsabkommen sorgen für höhere Exportvolumina und sind Grundlage für erfolgreiches De-Risking durch Diversifizierung. Die EU hat es bisher noch nicht geschafft, die Handelspolitik auf die geopolitischen Realitäten hin auszurichten. Das Scheitern des Abkommens mit Australien ist ein Warnruf, ebenso ist die Ratifizierung des Mercosur- Abkommen längst nicht in trockenen Tüchern. Hier geht es um enge Partner, die demokratisch gewählt sind. Ein Abschluss dieser Abkommen ist im ureigenen strategischen Interesse Europas. Darüber hinaus müssen Abkommen mit Ländern in Asien, das größer ist als China, und Afrika folgen. Wir müssen pragmatisch um Partner werben.

Schluss: Klares Bekenntnis zur Marktwirtschaft

Der Kern wirtschaftlichen Erfolgs liegt in einer Regulierung, die an der unternehmerischen Praxis ansetzt. Das Entgegenbringen von Vertrauen der Politik in marktwirtschaftlich effiziente Ergebnisse ist die Voraussetzung. In der Umsetzung bedeutet das eine klare Agenda zur Stärkung privater Investitionen und ein Entfesseln der Innovationskraft am Standort – sowohl um einen global wirksamen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten als auch den Standort global wettbewerbsfähig zu halten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit, ungenutzte Mittel aus der Corona-Krise in den Klimatransformationsfonds zu übertragen, ist ein Paukenschlag. Bundesregierungen jedweder Couleur kommen nicht mehr darum herum, endlich die Ausgaben und Themen für eine erfolgreiche Transformation zu priorisieren. Es muss darum gehen, künftig mit strikter Haushaltsdisziplin langfristige Weichenstellungen vorzunehmen, um das Geschäftsmodell Deutschland zukunftsfähig aufzustellen. Nur dann wird der Industriestandort die Transformation nicht nur überstehen, sondern diese gestalten und aus den gleichzeitigen Krisen gestärkt hervorgehen.

Zurzeit leben wir von der Substanz – es braucht einen Schub für nachhaltiges Wachstum.

Dr. Tanja Gönner
Dr. Tanja Gönner Hauptgeschäftsführerin, BDI
Das aktuelle Handelsblatt Journal
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