„Die D&O-Versicherung ist selbst aus kleineren Unternehmen kaum noch wegzudenken.“

Interview mit Dr. Carola Bilgen, verantwortlich für den Bereich Casualty/Financial Lines und die Prüfung versicherungsbezogener Rechtsfragen bei der TK Elevator Holding GmbH, über die aktuellen Herausforderungen bei D&O-Versicherungen und die Potenziale optimierter Renewal-Verhandlungen.

Redaktion: Gerhard Walter, Solutions by HANDELSBLATT MEDIA GROUP GMBH

Vor gut 20 Jahren haben Sie sich in Ihrer Dissertation intensiv mit dem Geschäftsfeld der D&O-Versicherung in Deutschland auseinandergesetzt und branchen­interne Pionierarbeit geleistet. Welche tiefgreifenden Veränderungen hat der Markt hierzulande seitdem durchlebt?
Der Markt hat in diesen rund 20 Jahren für alle Beteiligte gute wie schlechte Phasen durchgemacht. Positiv hervorzuheben ist sicherlich, dass sich die verschiedenen Marktteilnehmer – Versicherer, Makler, aber auch Versicherungsnehmer – in dieser Sparte immer weiter spezialisiert haben. Dies führte zu einer stetigen Weiterentwicklung der Versicherungsbedingungen, der Erarbeitung zum Teil sehr individueller, passgenauer Bedingungswerke für Großunternehmen und der Organisation von internationalen Versicherungsprogrammen. Auch die Schadenbearbeitung wurde nicht zuletzt durch Vorgaben der Rechtsprechung detaillierter und vertiefter. Zudem besteht inzwischen eine sehr hohe Erwartungshaltung der Organmitglieder, was ihren D&O-Versicherungsschutz über das Unternehmen anbelangt. Die D&O-Versicherung ist selbst aus kleineren Unternehmen kaum noch wegzudenken.

Wenn es zu einem D&O-Schaden kommt, stehen für die Versicherer und ihre Kunden Geld und der gute Ruf auf dem Spiel. Inwiefern lassen sich diese unterschiedlichen Perspektiven überhaupt ausbalancieren?
Im Schadenfall kann es zu sehr unterschiedlichen Konstellationen kommen. Wird ein Organmitglied von einem außerhalb des Unternehmens stehenden Dritten in Anspruch genommen, sollten Versicherer, Kunde und versicherte Person bei der Anspruchsabwehr normalerweise vertrauensvoll zusammenarbeiten. Problematischer kann es bei Innenhaftungsfällen werden. Hier kommt es maßgeblich darauf an, dass alle Parteien fair miteinander umgehen – wozu auch Vertraulichkeit und rechtlich nachvollziehbare Argumentationen zählen – , konstruktiv an einer Lösung arbeiten oder, falls nötig, rechtliche Fragen vor einem ordentlichen Gericht oder einem Schiedsgericht klären lassen.

Welche zeitlichen und organisatorischen Herausforderungen stellen sich einem global operierenden Industrieunternehmen, wenn die Versicherer ihre klassische D&O Risikobewertung erstellen?
Die größte Herausforderung war in den letzten Jahren der Zeitdruck in den Renewal-Verhandlungen. Sofern die Versicherer ihr Informationsbedürfnis für die Risikobewertung rechtzeitig, also etwa zwei bis drei Monate vor dem Renewal, anmelden, kann der Kunde die Fragen thematisch sortieren und durch die zuständigen Fachabteilungen zentral oder lokal beantworten lassen. Hierbei hilft eine gute Vernetzung der Versicherungsabteilung im Konzern ebenso wie eine regelmäßige interne Kommunikation zu risikorelevanten Themen.

Inwieweit kann in einer Konzernzentrale überhaupt umfassend eingeschätzt werden, welche Versicherungsrisiken etwa an einem entlegenen Produktionsstandort auf der anderen Erdhalbkugel lauern?
Eine Konzernzentrale kann sicherlich nicht alle exakten Risiken jedes einzelnen Standortes weltweit kennen. Dies ist aber auch für eine konzernweite Risikobewertung für die Sparte D&O nicht erforderlich. Neben der Größe eines Unternehmens spielt insbesondere das konzernweite Risikomanagement mit Aspekten wie internen Kontrollsystemen, einer gut aufgestellten Compliance-Organisation, präventiven Schulungsmaßnahmen etc. eine wesentliche Rolle bei der Risikobewertung.

Wie können bei D&O-Versicherern das Einholen von ­Angeboten, das Verfassen und Aushandeln von Versicherungspolicen und die Betreuung im Schadensfall verbessert werden?
Das größte Verbesserungspotential dürfte in den zeitlichen Abläufen liegen. Für die Kunden ist ein verbindlicher Zeitplan mit verlässlichen Reaktionszeiten der Versicherer gerade in der Renewal-Phase von maßgeblicher Bedeutung. Häufig sind sowohl auf Versicherer- als auch auf Kundenseite mehrstufige Abstimmungsprozesse nötig, die einige Zeit benötigen. Da die Verträge in den gelayerten Versicherungsprogrammen aufeinander aufbauen, ist eine frühzeitige Einigung in den unteren Verträgen zwingend notwendig für die weiteren Verhandlungen. Auch die Ausfertigung der Policen sollte zeitnäher erfolgen. Hier sind Wartezeiten von etlichen Monaten nicht selten. Im Schadenfall gibt es bei den Kunden sehr unterschiedliche Erfahrungen, die von einer reibungslosen Regulierung bis hin zu sehr schwierigen Verhandlungen mit den Versicherern reichen.

D&O-Versicherungen sind sehr individuell und daher beratungsintensiv. Inwiefern wären eine stärkere Digitalisierung der Prozesse und der Aufbau einer Industrieversicherungsplattform zur Ausschreibung von Risiken wirklich sinnvoll umsetzbar?
Die ersten Versuche, D&O-Programme von Großunternehmen im Rahmen einer Versicherungsplattform auszuschreiben und einzukaufen, waren nicht sonderlich erfolgreich. Das Produkt ist auf Versicherer- wie auch auf Kundenseite zu individuell im Großkundensegment. Eher vorstellbar wäre die Nutzung einer solchen Plattform für den Einkauf von D&O-Policen für kleinere Unternehmen, die meist „von der Stange“ kommen. Auch der Vertrieb von Individualpolicen (Selbstbehaltspolicen) eignet sich für ein hohes Maß an Standardisierung.

Die Renewal-Phase, die Vertragsverlängerung mit dem Fortbestehen des uneingeschränkten Versicherungsschutzes bei der D&O-Police, verlangt die jährliche Meldung wichtiger Risikodaten und anzeigepflichtiger Gefahrenerhöhungen. Wie lassen sich aus Ihrer Sicht diese Prozesse optimieren?
Als sehr sinnvoll und effektiv haben sich diesbezüglich Versichererrunden erwiesen, in denen der Kunde – unter Umständen mit Einbezug von Fachabteilungen wie etwa Recht oder Compliance – dem Kreis der interessierten Versicherer die wesentlichen Informationen zum Konzern mitteilt, etwaige maßgebliche Änderungen des Risikos vorstellt, Fragen der Versicherer beantwortet und aktuelle Themen, wie beispielsweise den Umgang mit den Corona-Risiken, erörtert. Wesentlich zum Gelingen einer solchen Veranstaltung trägt wiederum – wie eben schon erwähnt – eine frühzeitige Abstimmung zwischen Versicherern und Kunde bei, damit der Kunde rechtzeitig die von den Versicherern abgefragten Informationen bei den Fachabteilungen einholen kann. Im Übrigen muss der Kunde selbstverständlich über anzeigepflichtige Gefahrerhöhungen gegebenenfalls  auch unterjährig unterrichten.

Dr. Carola Bilgen hat in Münster Rechtswissenschaften studiert und wurde dort 2003 mit dem Thema „Die D&O-Versicherung in Deutschland“ promoviert. Nach ihrem Referendariat praktizierte sie als Rechtsanwältin in versicherungsrechtlichen Spezialkanzleien in Köln und Düsseldorf, bevor sie 2010 in den Versicherungsbereich der thyssenkrupp AG eintrat und dort vornehmlich für Casualty/Financial Lines sowie spartenübergreifende versicherungsbezogene Fragestellungen zuständig war. Im Zuge des Verkaufs der Aufzugssparte des thyssenkrupp-Konzerns wechselte Frau Dr. Bilgen im Herbst 2020 zur TK Elevator Holding GmbH. Auch hier verantwortet sie den Bereich Casualty/Financial Lines und prüft versicherungsbezogene Rechtsfragen.