Die deutschen Autobauer brauchen eine neue Idee

Das Alte verschwindet, das Neue hat sich noch nicht herausgebildet. Was für die Weltpolitik gilt, scheint auch für die Mobilität zuzutreffen. Gehen wir in den Elektroantrieb oder lieber doch nicht? Wollen wir autonomes und vernetztes Fahren? Können wir uns intermodale Mobilität vorstellen? Haben wir den Mut, unsere Städte neu und anders zu gestalten? Ein Wandel der Mobilität wäre mit Blick auf die wachsende Weltbevölkerung und die sich verschärfende Klimakrise dringend erforderlich. Es gäbe Stoff genug, um mutig und kraftvoll anzupacken und vor dem Hintergrund der technologischen Möglichkeiten in Deutschland die «Lust auf eine neue, andere, bessere Mobilität» zu entfachen.

Wie relevant ist «Made in Germany“ noch?
Stattdessen versuchen wir um jeden Preis die Vergangenheit zu retten. Kein Wunder, zu schön waren die Zeiten, als Autos «Made in Germany» überall auf der Welt besonders begehrt wurden. Die Erzählung, «wir bauen die besten Autos der Welt», hat uns über Jahrzehnte getragen und Wohlstand und Ansehen gebracht. Deutschland wurde der ewige Exportweltmeister, und ganze Landstriche konnten sich rund ums Automobil entwickeln. Und jetzt die «leidige» Diskussion um Elektrofahrzeuge, autonome Taxis und autofreie Innenstädte, eine Debatte, die bei uns eigentlich keiner hören will. Die Autofahrer nicht, die Industrie nicht und die Politik schon gar nicht.

Die Transformation verschlafen?
Folglich ist das, was wir derzeit erleben, die Geschichte einer verschleppten, nie gewollten und schon gar nicht ernsthaft angegangenen Transformation, die sinnbildlich für ganz Deutschland steht. Seit Jahren reden in der Industrie alle vom Wandel. Man müsse die Autos von der Software her entwickeln, lautete sogar einer der Leitsätze. Wirklich verändert wurde kaum etwas. Musste man auch nicht. Der chinesische Markt wirkte wie eine Droge und bescherte den deutschen Herstellern einen Absatzrekord nach dem anderen. Am besten alles beim Alten belassen, bloß nichts Neues wagen, Produkte und Geschäftsmodelle funktionierten bestens.

Wurde es einmal eng, wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise, war die Politik zur Stelle. Die heimische Automobilindustrie ist systemrelevant und konnte stets auf die Politik zählen: Abwrackprämie, Pendlerpauschale, Dieselprivileg etc. Und dazu die ewige Diskussion um Technologieoffenheit. Ja, es soll einen Wettbewerb um die beste Antriebstechnologie geben. Die effizienteste, leistungsfähigste, umweltschonendste soll sich durchsetzen. Wer kann schon dagegen sein. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Entscheidung über den Antrieb der Zukunft nicht mehr (so wie früher) in Wolfsburg, Stuttgart und München getroffen wird, sondern in Peking, Shanghai und San Francisco.

Und schon droht das nächste Debakel: In den USA und in China sind bereits in zahlreichen Städten autonome Taxis im Einsatz. Wir kennen die Bilder der Waymo-Autos aus San Francisco. In Oslo sollen ab 2030 mehrere 10.000 selbstfahrende Fahrzeuge ein ganz neues Mobilitätserlebnis bieten. Und was passiert bei uns? Hierzulande erfreut man sich an einzelnen fahrerlosen Mini-Bussen, die zwischen zwei Haltepunkten pendeln. Aber alle im Testbetrieb, alles im Kleinen. Schon wieder wird gezögert und gezaudert, statt zumindest beim autonomen Fahren einmal ganz vorn dabei zu sein. Das Gesetz dazu hätten wir, aber die Umsetzung will einfach nicht klappen.

Wo ist die Agenda für eine andere Mobilität?
Es ist unbestritten, dass wir in Deutschland alle irgendwie wollen, aber irgendwie doch nicht können, um letztlich enttäuscht festzustellen: «Alles ist zu teuer, zu langsam und zu kompliziert. Der Wandel funktioniert nicht». Dies hat auch mit der Planlosigkeit unserer Politik zu tun. Mal wird dieses, mal wird jenes gefördert, wohin man damit will, ist unklar. Es fehlt die große Idee für unser Land und die Automobilindustrie. Die Folgen sind haarsträubend: Wir fördern alles und nichts. Wir verteilen Geld mit der Gießkanne, statt Akzente zu setzen. Wir kleckern, statt dass wir klotzen. Es gibt keine Agenda, es gibt keinen Plan für den Umbau der Automobilindustrie. Wir kommen nicht von der Stelle. Die Konsequenzen sind inzwischen spürbar: Drei VW-Werke dicht. 18 Prozent weniger Gehalt. Die Gewerkschaften sind entsetzt. Es wird Arbeitskämpfe geben. Obgleich es am Ende trotz heftigster Gegenwehr der Gewerkschaften zu Anpassungen kommen wird, dürfen wir eines nicht vergessen: Leidensdruck allein reicht nicht aus. Es braucht eine neue, faszinierende Idee. Nur so gelingt es, die Menschen bei VW aber auch in unserem Land für den steinigen Weg der Transformation zu gewinnen. Neben notwendigen Programmen, um die Kosten zu senken, ist eine neue Erzählung für die deutsche Automobilindustrie unerlässlich. Wo will sie hin? Für was will sie stehen?

Denken wir an das Nietzsche-Wort: Wer sein WARUM im Leben kennt, kann fast jedes WIE ertragen. Uns
fehlt das neue WARUM. Deshalb fällt den Menschen der Wandel so schwer, sie wissen nicht, wohin die Reise gehen soll. Wer gibt schon das Alte auf, wenn nicht einmal die Konturen des Neuen erkennbar sind? Es braucht so dringlich eine neue, große Idee für eine andere Mobilität. Eine Mobilität, die begeistert, aber auch den Menschen Lebenschancen und Arbeitsplätze bietet. Man muss sich nur umschauen, mit welchem Mut, mit welcher Zuversicht in Tel Aviv oder Shenzhen an der Mobilität der Zukunft gearbeitet wird. Und bei uns? Bedenken und Verzagen.

Die Chance zur Wende ist da
Stattdessen könnten wir unser Land zum weltweit führenden Standort für die neue Mobilität entwickeln. Mittendrin unsere herausragenden Autobauer. Drumherum Städte, die wir für das autonome und vernetzte Fahren umbauen. Ein Sondervermögen, um die Verkehrsinfrastruktur, die Digitalisierung und die Deutsche Bahn auf den neusten Stand zu bringen. Anreize für die Menschen, um multimodale Mobilität zu nutzen. Modellregionen, damit die Tech-Firmen innovative Geschäftsmodelle testen können. Deutschland auf dem Weg vom Autoland zum Mobilitätsland, ein Vorzeigeland für eine effiziente, nachhaltige, inklusive Mobilität. Das Verkehrsministerium stellt den runden Tisch bereit, um die als bedeutsam erachteten zukünftigen Fähigkeiten zu entwickeln und alle Akteure zu vereinen. Dort, wo man im eigenen Land Wettbewerbschancen sieht, sind Cluster zu initiieren, um genau diese Fähigkeiten zu fördern. Top-Universitäten, Tech-Firmen, Behörden, Autohersteller, Software-Schmieden, Venture-Firmen, Banken, alle auf engsten Raum und dem gemeinsamen Ziel verpflichtet, das weltweit führende Zentrum für die neue Mobilität zu werden. Zugegeben ein großes Projekt. Aber wollen wir wirklich im Klein-Klein verharren, während andernorts längst die Zukunft begonnen hat?

Wie so etwas funktioniert? Das lässt sich am Beispiel des «mobility valley» in Israel beobachten. Dort ist unter Mithilfe der Regierung ein Cluster für Software rund um Cyber-Sicherheit sowie das vernetzte und autonome Fahren entstanden. Mittendrin Firmen wie Mobileye oder Argus, aber auch alle deutschen Autofirmen betreiben dort Forschungszentren. Wir haben nicht mehr viel Zeit für den großen Wurf. Packen wir es endlich an. ■

Illustration: Getty; Icon: Freepik

Wir könnten unser Land zum weltweit führenden Standort für die neue Mobilität entwickeln.

Prof. Dr. Andreas Herrmann, Direktor des Instituts für Mobilität, Universität St. Gallen

Ein Wandel der Mobilität wäre mit Blick auf die wachsende Weltbevölkerung und die sich verschärfende Klimakrise dringend erforderlich.

Prof. Dr. Andreas Herrmann, Direktor des Instituts für Mobilität, Universität St. Gallen
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Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Die Zukunft der Automobilindustrie“ erschienen. Das vollständige Journal können Sie sich hier kostenlos herunterladen:
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