Deutschland, öffne dich

Mehr Raum für technische Innovation und Public-Private-Partnership
Deutschlands Digitalisierung hinkt hinterher. Im „Digital Economy and Society Index“ 2022 der EU-Kommission, der misst, wie digital die Verwaltungen in Europa sind (Quelle), belegt Deutschland Platz 21 von 35. In Estland, den skandinavischen Ländern oder auch Spanien und Portugal ist die Digitalisierungsrate in der öffentlichen Verwaltung deutlich höher. Woran liegt das?

Benny Bennet Jürgens, CEO und Gründer, Nect

2017 wurde das Onlinezugangsgesetz (OZG) beschlossen. Ziel des Gesetzes war es, bis Ende 2022 575 Verwaltungsleistungen (OZG-Leistungen) digital zugänglich zu machen, u.a. die Beantragung von Arbeitslosengeld oder einer Meldebescheinigung. Tatsächlich umgesetzt wurden von Bund, Ländern und Gemeinden laut Normenkontrollrat 2022 allerdings lediglich 33 OZG-Leistungen (Quelle).

Die Gründe dafür sind vielfältig, doch ein Grund sticht besonders hervor: eine fehlende digitale Identität. Benny Bennet Jürgens, CEO und Gründer des IT Unternehmens Nect, einem der führenden deutschen Anbieter für digitale Identifizierungslösungen, hat eine Idee, wie der deutsche Digitalisierungsfortschritt gelingen kann. Sein 2017 gegründetes Unternehmen bietet mit der Nect Wallet App digitale, vollautomatische Ausweis- und Signaturprozesse an, die eigenständig und ohne Wartezeiten genutzt werden können. Unter anderem setzen Versicherungen, Krankenkassen und Telekommunikationsdienstleister sowie über sieben Millionen Nutzende auf die patentierte Technologie von Nect. Auch die Digitalisierung der Verwaltung liegt im Fokus des Unternehmens, stellt es jedoch regelmäßig vor Hürden, die eine Umsetzung verzögern.

Laut Jürgens gibt es in Deutschland zwei zentrale Herausforderungen, die einer weitgreifenden Digitalisierung im Wege stehen: „Als Unternehmer im Bereich digitaler Identitäten bin ich täglich mit Innovationsblockaden durch technologiegeschlossene Regulation in Deutschland konfrontiert. Um diese Limitierungen zu überwinden, braucht es eine größere Technologieoffenheit und eine stärkere Kollaboration zwischen Staat und Wirtschaft. Für eine digitale Verwaltung ist neben der Sicherheit vor allem die Nutzer:innenzentriertheit wichtig. Verwaltungsleistungen werden von Personen mit verschiedensten Bedürfnissen und Technik-Kenntnissen genutzt und müssen daher so aufgestellt sein, dass sie für möglichst viele Menschen zugänglich sind.”

Hier kommen die Expertise und Erfahrung von Unternehmen aus der Privatwirtschaft ins Spiel. Denn weder Unternehmen noch der Staat können alles eigenständig entwickeln. „Wir müssen die beiden Welten zusammenführen. Die Erfahrungen des privaten Sektors im Bereich Nutzungsfreundlichkeit, Sicherheit und der Erstellung guter digitaler Produkte können optimal mit den Digitalisierungszielen der Bundesregierung verbunden werden”, so Jürgens. Dabei soll kein Konkurrenzkampf entstehen, sondern ein ergänzendes Miteinander.

Online-Ausweisfunktion: bundesweite Lösung oder Komplementärverfahren?

Ein Beispiel, bei dem ein solches Miteinander gut funktioniert, ist der Online-Personalausweis (eID). Nect arbeitet dazu seit letztem Jahr mit der D-Trust GmbH, einem Unternehmen der Bundesdruckerei-Gruppe, zusammen. Durch die Einbindung der Lösung „AusweisIDent” von D-Trust konnte Nect die Online-Ausweisfunktion des deutschen Personalausweises in seine Online-Identifizierungsschnittstelle integrieren. So können Nutzer:innen neben dem vollautomatischen Video-Ident, dem internationalen ePass und der Wallet-Funktion der Nect Wallet App auch die Online-Ausweisfunktion der Bundesregierung für die Identifizierung verwenden. Eine Win-Win-Situation für Staat und Unternehmen. Denn während Nect seinen Kundinnen und Kunden so ein weiteres Identifizierungsverfahren anbieten kann, profitiert die Online-Ausweisfunktion durch neue Wachstumskanäle durch die Nect-Schnittstelle.

Dennoch gibt es Hindernisse, die die Wichtigkeit komplementärer Identifizierungsverfahren verdeutlicht. Zwar gilt die eID als eine technisch sichere Lösung. Doch der durchschlagende Erfolg blieb bislang aus. Laut eGovernment Monitor 2022 haben lediglich zehn Prozent der deutschen Bürger:innen die Online-Ausweisfunktion schon einmal genutzt. Dafür gibt es zwei zentrale Gründe: Die vergessene oder nicht vorhandene PIN, die bei einer Identifizierung mit der eID immer benötigt wird. Und das schwerfällige Scannen des NFC-Chips auf dem Personalausweis. Knapp 80 Prozent der Nutzer:innen springen aufgrund dieser beiden Punkte ab. So ist die deutliche Mehrheit auf alternative Lösungen angewiesen. Es wird deutlich, dass Verwaltungsdienstleistungen komplementäre Online-Ident-Lösungen benötigen, um erfolgreich von den Bürger:innen genutzt werden zu können.

Dass auch die Online-Ausweisfunktion von einer Weiterentwicklung profitieren könnte, zeigt auch die so genannte “Friendly Fraud”-Gefahr. Das heißt, die sechsstellige PIN des Online-Ausweises ist für Betrüger:innen aus dem privaten Umfeld vergleichsweise einfach herauszufinden – häufig ist es ein Geburtsdatum.  Ein alternativer Sicherheitsvektor wie der Abgleich von biometrischen Daten, wie ihn Nect beispielsweise im ePass nutzt, wäre auch für die Online-Ausweisfunktion eine gute Alternative zur PIN und ein weiterer Punkt, bei dem Privatunternehmen und öffentlicher Sektor zusammen Gutes für die Bürger:innen bewirken könnten.

Außerdem würde man mit alternativen, ergänzenden Identifizierungsmethoden dafür sorgen, dass bislang ausgeschlossene Personengruppen einfach Verwaltungsleistungen in Anspruch nehmen können. Beispielsweise Fachkräfte, die aus dem Ausland nach Deutschland umziehen oder deutsche Bürger:innen, die nur einen Reisepass besitzen. Gleichzeitig ist die Bevölkerung an mobile Online-Dienste gewöhnt – die Plastikkarte entspricht daher immer seltener der Gewohnheit der Bürger:innen.

Es wird deutlich: Die eID basiert auf einem guten Ansatz. Die digitalen Verwaltungsleistungen bedürfen aber für die flächendeckende Verbreitung weitere, komplementäre Identifizierungsmethoden.

OZG 2.0 und eine neue Chance auf Digitalisierung

Mit einer Neuauflage des Onlinezugangsgesetzes, dem OZG 2.0, soll die Digitalisierung der Verwaltung nun weiter vorangetrieben werden. Berücksichtigt werden müssten hier auch privatwirtschaftliche Identifizierungs- und Authentifizierungslösungen – wie es in Ländern wie Schweden oder Frankreich schon gelebt wird. Anbieter in Deutschland können zwar eine Bewertung ihrer Identifizierungsverfahren für den Zugang zu staatlichen Nutzerkonten, wie z.B. die Bund ID, gemäß der eIDAS-Vertrauensniveaus „normal”, „substanziell” oder „hoch” durchführen lassen. Allerdings braucht es hier einen offiziellen Auftrag des Bundesministeriums des Innern, was erneut den Bedarf einer guten Zusammenarbeit zwischen Staat und Privatwirtschaft verdeutlicht, um Innovation in die Verwaltung zu tragen.

Benny Bennet Jürgens sieht hier deutliches Verbesserungspotenzial und appelliert an die Technologieoffenheit der Bundesregierung: „Regulatorik setzt die Grundlage technologischer Entwicklungen, vor allem im hochsensiblen Geschäft mit digitalen Identitäten: Sie gibt einen Rahmen, um Nutzer:innen und Unternehmen zu schützen, denn natürlich birgt Digitalisierung auch Risiken. Um jedoch bessere Ergebnisse bei der Verwaltungsdigitalisierung zu erzielen, bedarf es einer innovationsfreundlichen und einheitlichen Anerkennung auf EU-Ebene, die länder- und sektorenübergreifend gültig ist. Aktuell besteht in Deutschland ein Flickenteppich aus verschiedenen regulatorischen Maßnahmen, sodass Marktteilnehmer:innen, beispielsweise aus dem E-Government oder der Banking-Branche, verschiedenste Zertifizierungen und Bewertungen berücksichtigen müssen, um in den jeweiligen Industrien tätig sein zu dürfen. Dadurch entsteht eine Benachteiligung einzelner Industrien und Wirtschaftszweige. Eine Standardisierung würde allen Marktteilnehmer:innen und am Ende auch den Bürger:innen helfen.“

Ob die Beantragung von Wohngeld, eines Aufenthaltstitels für Einwandernde oder die digitale Anmeldung eines Autos. Benny Bennet Jürgens hat das Ziel, die digitale Verwaltung gemeinsam und auf Augenhöhe mit dem Staat voranzutreiben, um noch mehr Bürger:innen zu befähigen, von digitalen Verwaltungsleistungen zu profitieren.