Den Staat zukunftsfähig aufstellen

Die Digitalisierung bietet Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft – mehr noch: Sie ist die Gestaltungskraft, mit der sich der Staat zukunftsfähig aufstellen kann. Auf dem Weg zu „Digital Only“ müssen Staat und Gesellschaft konsequent und gleichzeitig inklusiv vorgehen, um niemanden auszugrenzen.

Ende Januar haben die Verkehrsminister:innen von Bund und Ländern nach langem Ringen die Einführung des Deutschlandtickets zum 1. Mai beschlossen. 49 Euro im Monat für unbegrenzte Fahrten im Regional- und Nahverkehr in ganz Deutschland – das ist in vielerlei Hinsicht ein gelungener Coup. Dass sich Bund und Länder überhaupt auf eine solche Vereinfachung einigen konnten, ist angesichts der leider noch häufig üblichen Kleinstaaterei schon bemerkenswert und für viele Menschen eine willkommene finanzielle Entlastung.

Lena-Sophie Müller, Geschäftsführerin, Initiative D21

Das Deutschlandticket digital via Smartphone-App anzubieten, ist völlig richtig, da 89 Prozent der Bürger: innen dieses ohnehin bereits besitzen. Und auch für den Staat selbst liegen die Vorteile auf der Hand, da er so wichtige Mobilitätsdaten für die Verkehrslenkung der Zukunft sammeln und die Attraktivität des ÖPNV verbessern kann. Doch nicht alle sind begeistert. Prompt meldete sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) zu Wort und forderte – durchaus nachvollziehbar – langfristig zusätzlich ein Papierticket oder eine Chipkarte anzubieten, um insbesondere ältere Menschen ohne Smartphone nicht auszugrenzen.

Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt rangiert im digitalen Mittelfeld.

Was sich hier zeigt, ist die digitale Spaltung in Deutschland: Ein Teil der Bevölkerung erwartet moderne Angebote, die – wie sonst auch im Leben – digital und von überall genutzt werden können. Ein anderer Teil fühlt sich abgehängt. Der Staat steht also vor einer doppelten Aufgabe: Er muss massiv in seine eigene Leistungs- und damit Zukunftsfähigkeit investieren und gleichzeitig digitale Teilhabe ermöglichen.

Staat und Verwaltung brauchen skalierbare Lösungen

Der vielleicht größte Vorteil der Digitalisierung ist die Skalierbarkeit. Einer gut gemachten digitalen Lösung ist es egal, ob sie von zehn oder von hunderttausend Menschen genutzt wird, oder ob dies automatisiert außerhalb der Arbeitszeiten im Rechenzentrum geschieht. In digitalen Infrastrukturen können Standardprozesse leicht automatisiert werden, sodass Personal für andere wichtige Aufgaben frei wird. Für die Zukunftsfähigkeit des Staates und seiner öffentlichen Verwaltung ist es deshalb entscheidend, solche leicht nutzbaren und skalierbaren Lösungen zu entwickeln.

In anderen Ländern funktionieren Verwaltungskontakte wie bei der Gewerbeanmeldung oder Ummeldung des Wohnsitzes längst digital, hier allerdings noch nicht. Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt rangiert im digitalen Mittelfeld. Das erklärte Ziel der aktuellen Digitalstrategie ist es, hier unter die Top 10 zu kommen. Dabei wurde aber ein wichtiges Etappenziel – das Onlinezugangsgesetz (OZG) – unlängst verfehlt. Und schon steht die nächste Frist aus Brüssel an: Bis zum 12. Dezember 2023 müssen die Vorgaben der Verordnung zum Single Digital Gateway erfüllt sein und 21 geforderte Leistungen EU-weit online zur Verfügung stehen. Andernfalls drohen Sanktionen. Jetzt ist also dringend eine echte Effizienzsteigerung gefragt. Die könnte in einem ersten Schritt darin liegen, dass die digitale Lösung zum Standard und die analoge Alternative zur Ausnahme wird.

Man kann von einer regelrechten „Zutrauenskrise“ der Menschen in die Leistungsfähigkeit des Staates sprechen.

Über Digital First zu Digital Only

In Bayern geht man diesen Weg bereits: Im Juli 2022 trat das „Gesetz über die Digitalisierung im Freistaat Bayern“ in Kraft, das von der Vorrangigkeit des Digitalen ausgeht. „Digital First“ bedeutet, dass digitale Verwaltungsleistungen zum Regelfall werden, wenn die Bürger nicht darauf bestehen, persönlich auf dem Amt zu erscheinen. Die derzeit bearbeitete Novellierung des OZG will sich ebenfalls an „Digital First“ orientieren. Europäische Initiativen wie das „Once Only“-Prinzip und die Registermodernisierung zielen darauf ab, dass Bürger:innen künftig ihre Daten nur noch einmal eingeben und die Verwaltungen sich intern austauschen dürfen – oder im Idealfall sogar automatisch agieren. Dahin müssen wir kommen.

Dass die digitale Wirklichkeit noch anders aussieht, hat unlängst die Wohngeldreform gezeigt. Die Senkung der Einkommensbemessungsgrenze hat die Zahl der Wohngeldberechtigten um das Dreifache ansteigen lassen. Das bedeutet auch: dreimal so viele Anträge, die die Verwaltung analog bearbeiten muss. Die Kommunen fordern mehr Personal. Weil dieses Personal jedoch nicht vorhanden ist und digitale Lösungen meist nur in Form eines PDF-Antrags zur Verfügung stehen, der dann in der Verwaltung ausgedruckt und händisch bearbeitet wird, warten nun die Antragsteller:innen monatelang auf einen Entscheid. Was positiv gedacht ist, führt so in der Umsetzung eher zu Frust. Das kann sich ein Staat wie Deutschland nicht leisten.

Wenig Zutrauen in staatliche Leistungsfähigkeit

Hinzu kommt, dass in den kommenden Jahren noch weitaus größere Gestaltungsaufgaben die Zukunftsfähigkeit beeinflussen werden. Der grüne Wandel und damit einhergehend die Transformation des Energie- und Verkehrssektors, der Fachkräftemangel, die nötige Reform des Bildungswesens, das Erreichen wichtiger vereinbarter Nachhaltigkeitsziele. Für die erfolgreiche Bewältigung all dieser Aufgaben muss sich der Staat die Gestaltungskraft der Digitalisierung sinnvoll zunutze machen und Aufgaben anders angehen. Wieso muss man alle zwei Jahre seinen Anwohnerparkausweis neu beantragen und millionenfache Verwaltungsvorgänge im ganzen Land auslösen, wenn aus dem Melde- und Kfz-Register doch eindeutig hervorgeht, dass kein Umzug stattgefunden hat und das Auto noch angemeldet ist? Mit einer einfachen Abbuchung wäre allen geholfen.

Der aktuelle eGovernment MONITOR 2022 der Initiative D21 zur Nutzung und Akzeptanz digitaler Verwaltungsdienste zeigt: 54 Prozent der Befragten empfinden den Kontakt mit der Verwaltung zumeist als „sehr anstrengend“. Formulare sind unverständlich, Leistungen werden online gar nicht angeboten oder sind nicht auffindbar, es mangelt an Hilfestellung durch die Behörden. Nur 25 Prozent trauen dem Staat zu, dass binnen drei Jahren alle Behördengänge online absolviert werden könnten. Man kann von einer regelrechten „Zutrauenskrise“ der Menschen in die Leistungsfähigkeit des Staates sprechen. Als Gesellschaft müssen wir aufpassen, dass daraus keine Vertrauenskrise in den Staat wird. Denn: Unsere Demokratie basiert auf dem Vertrauen der Bürger:innen in leistungsstarke und verlässliche staatliche Institutionen. Da das Zutrauen der Menschen bereits erodiert, gilt es jetzt umfassend und schnell in die Leistungsfähigkeit des Staates zu investieren. Während der Corona-Pandemie haben wir erlebt, dass staatliche Resilienz in Krisenzeiten gut funktioniert. Das muss uns jetzt auch im Normalbetrieb gelingen.

Doppelstrukturen sind langfristig nicht finanzierbar

Eine weitere große Gestaltungsaufgabe, die alle Branchen betrifft und somit auch den öffentlichen Dienst, ist der Fachkräftemangel. Laut Deutschem Beamtenbund (dbb) sind derzeit 360.000 Stellen unbesetzt. Die Unternehmensberatung McKinsey geht davon aus, dass die Personallücke im öffentlichen Dienst bis 2030 sogar 840.000 Vollzeitstellen betragen wird.

Doppelstrukturen sind vor diesem Hintergrund auf lange Sicht für den Staat nicht tragbar. Die Digitalisierung kann hier eine Antwort geben – sie ist für die Zukunftsfähigkeit sogar alternativlos.

Es ist daher dringend geboten, den aktuellen Schwung bei der Umsetzung der Verwaltungsdigitalisierung zu nutzen, bestehende föderale Hürden zu überwinden und gute gemeinsame Lösungen zu entwickeln. Ziel muss es sein, das Leben der Bürger:innen, aber auch der Verwaltungsmitarbeitenden zu erleichtern. Je mehr Prozesse dabei medienbruchfrei, digital oder besser noch automatisch ablaufen, desto mehr kann sich Verwaltungsarbeit auf die Unterstützung und Beratung derjenigen konzentrieren, die Hilfe benötigen – etwa wenn Vorgänge als zu kompliziert zur alleinigen Bearbeitung empfunden werden oder bei der Besprechung komplexer Einzelfälle in der Sachbearbeitung.

Auf absehbare Zeit sind deshalb noch „analoge Schnittstellen“ zur neuen Infrastruktur und Hilfestellung zur Nutzung der neuen Angebote erforderlich. Irgendwann wird aus dem Bürgeramt ein Ort für Beratung und nicht mehr für Anträge. Diese werden über ein Bürgerterminal, eine App im Smartphone oder irgendwann mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz komplett virtuell erledigt werden. In der Digitalstrategie der Bundesregierung steht: Alle Menschen sollen bestmöglich von der Digitalisierung profitieren. Deswegen spricht auch nichts dagegen, das Deutschlandticket jetzt zusätzlich auch als Chipkarte am Kiosk anzubieten für Menschen, die sonst unbedacht blieben. Die Mehrheit wird das Deutschlandticket auf dem Smartphone nutzen, und der Rest kann trotzdem von den Chancen des Angebots profitieren.

Irgendwann wird aus dem Bürgeramt ein Ort für Beratung, nicht mehr für Anträge.

Handelsblatt Journal
Dieser Artikel ist im aktuellen Handelsblatt Journal „Government Technology“ erschienen.

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