Diese Äußerungen lösten damals große Verwunderung aus – auch weil sie nicht so recht zum Bild eines kriegsgebeutelten, hilflosen Staats zu passen schienen. Tatsächlich aber beweist die Ukraine, wie digitale Technologie dem Staat ermöglicht, Bürger:innen auch in absoluten Ausnahmesituationen zur Seite zu stehen. Trotz Raketenbeschuss und Stromausfall ein neues Gewerbe anmelden, staatliche Leistungen beantragen. Kriegsschäden melden und Menschen auf der Flucht erreichen – die digitale Verwaltung in der Ukraine funktioniert im Großen und Ganzen trotz des russischen Angriffskriegs. Der Schlüssel hierzu sind digitale Instrumente für die öffentliche Verwaltung und weitsichtige Investitionen in die digitale öffentliche Infrastruktur. Deutschland unterstützt die Ukraine hierbei, dazu gleich mehr.
Welche enormen Chancen Digitalisierung mit sich bringt, zeigt das Beispiel Ukraine also eindrucksvoll. Unbestritten birgt die digitale Transformation aber auch erhebliche Risiken. Viel schwieriger ist daher die Antwort auf die Frage, wie wir ihre Möglichkeiten im Rahmen unserer internationalen Zusammenarbeit nutzen, um neben der Widerstandsfähigkeit Wachstum und Teilhabe in unseren Partnerländern zu fördern, ohne dabei diese Risiken aus den Augen zu verlieren.
Profitstreben versus Überwachungsstaat: Wahl zwischen zwei Übeln?
Fest steht: Die digitale Transformation ist Realität und sie passiert, mit oder ohne uns. Die entscheidende Frage ist: Gelingt es uns, diese größte Umwälzung unseres weltweiten Wirtschaftssystems seit der industriellen Revolution zu gestalten? Oder lassen wir uns von ihr überrollen? Stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt der digitalen Transformation – oder überlassen wir diesen Prozess dem freien Spiel der Kräfte?
Derzeit wird die digitale Transformation von zwei Modellen beherrscht: dem US-amerikanisch geprägten Big-Tech-Modell und dem chinesisch dominierten staatszentrierten Modell. Beide Ansätze verfolgen höchst gegensätzliche Ziele, doch beiden ist gemein: Das Gemeinwohl steht nicht in ihrem Zentrum. Und beide handeln mit dem wertvollsten Rohstoff des digitalen Zeitalters: mit Daten.
Der Fokus des Big-Tech-Modells auf das Profitstreben privatwirtschaftlicher Akteure vernachlässigt soziale Inklusion und schränkt die digitale Souveränität der Staaten durch Abhängigkeiten ein. Das chinesisch geprägte Modell der Digitalisierung ist autoritär, schafft geopolitische Abhängigkeiten und verletzt die Freiheit des Einzelnen: Afrikanische Regierungen lassen ihre Datenzentren von China fördern und bauen; 4G in Afrika beruht zu 70% auf Technik des chinesischen Konzerns Huawei – und öffnet damit Einflussmöglichkeiten auf sensible Infrastruktur und sicherheitsrelevante Technik.
Nicht nur die EU, auch viele Länder des Globalen Südens suchen daher nach Alternativen. Eine europäische Lösung, die die Bedürfnisse des Individuums ins Zentrum rückt und zugleich die digitale Souveränität im geopolitischen Spannungsfeld gewährleistet, kann hier ein ernsthaftes Angebot sein. Unser Ziel ist eine sozial-ökologische und zugleich feministische digitale Transformation weltweit: Eine Digitalisierung, die bestehende Klüfte schließt, statt sie zu vergrößern, gerade die zwischen Frauen und Männern. Eine Digitalisierung, die um die Gefahren weiß, wenn die richtigen Instrumente in die falschen Hände von Autokraten gelangen. Und eine Digitalisierung, die dem Klima nützt, statt neue CO2- Emissionen zu verursachen.
Der dritte Weg: Europas Angebot, Deutschlands Beitrag
Deutschland und die EU werden in den Partnerländern als ehrliche Makler eines alternativen dritten Wegs wahrgenommen. Zudem gibt es auch auf technischer Seite ein wachsendes globales Momentum für eine Digitalisierung, die den Menschen ins Zentrum rückt: Open- Source-Technologien haben sich in den letzten Jahren zu wichtigen Lösungen entwickelt, um die weltweiten Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Und ohne digitale Unterstützung, davon ist auch UN-Generalsekretär António Guterres überzeugt, kann die Weltgemeinschaft diese selbstgesteckten Ziele nicht mehr erreichen.
Nur ein Beispiel, wie wir im Rahmen unserer internationalen Zusammenarbeit solche Open-Source-Lösungen unterstützen, ist unsere GovStack-Initiative: GovStack bietet einen Baukasten (engl. stack=Stapel) für sichere und vertrauenswürdige digitale Verwaltungsdienste (e-Government): Angefangen beim Identitätsmanagement über digitale Bezahlsysteme oder Datenbanken mit entsprechenden Schnittstellen stellt GovStack kombinierbare Bausteine als digitale öffentliche Güter bereit. Diese können von Behörden weltweit wiederverwendet und nach ihren Bedürfnissen angepasst werden. Gegründet wurde die digitalpolitische Initiative von Deutschland, Estland, der internationalen Fernmeldeunion (ITU) und der UN Foundation Digital Impact Alliance (DIAL). Mittlerweile beteiligen sich Indien, Singapur, die USA, Ruanda, Kenia und Ägypten. Und seit kurzem auch die Ukraine, die sich vor dem Hintergrund des Kriegs Unterstützung bei der digitalen Erfassung zerstörter Infrastruktur und beim Wiederaufbau des Landes erhofft. Die so entwickelten Lösungen fließen in das Netzwerk der GovStack-Initiative zurück und nützen so auch anderen Partnerländern.
Wir wollen aber noch einen Schritt weitergehen, denn nicht nur das Beispiel Ukraine zeigt: Viele Partnerländer haben dank der Digitalisierung schon Lösungen gefunden, von denen wir in Deutschland noch meilenweit entfernt sind. Was in Kigali oder Kiew funktioniert, kann auch in Kreuzberg oder Kiel helfen. Deswegen wollen wir mit Partnern wie dem GovTech Campus, der digitale Lösungen für den öffentlichen Sektor in Deutschland sucht, ausloten, wie Ideen aus der internationalen Zusammenarbeit auch uns in Deutschland weiterbringen. Dass es diese sogenannte Reverse Innovation tatsächlich gibt, hat die Pandemie eindrücklich bewiesen: Deutsche Gesundheitsämter haben bei Kontaktnachverfolgung die Open-Source-Software SORMAS genutzt, die wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit ursprünglich für das Pandemiemanagement von Ebola in Kenia finanziert haben.
Am Ende profitieren alle – auch deutsche Unternehmen
Das Potenzial der Digitalisierung für die Entwicklungszusammenarbeit ist also bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Dies betrifft Branchen wie Gesundheit – dort insbesondere FemTech, also medizinische Lösungen speziell für Frauen, Landwirtschaft, Finanzwesen, digitaler Handel – und nicht zuletzt die Digitalisierung des Staates und der öffentlichen Verwaltung.
Gleichzeitig wollen wir uns den Risiken der Digitalisierung stellen. Wir wollen aktiv sozialer Spaltung, neuen Abhängigkeiten, schlechten Arbeitsbedingungen, autokratischem oder monopolistischem Missbrauch von Daten, Desinformationen sowie Umwelt- und Klimaschäden durch Ressourcenverbräuche und CO2-Emissionen der Digitalisierung entgegentreten. Denn Digitalisierung ist weltweit schon jetzt für genau so hohe CO2-Emissionen verantwortlich wie der weltweite Flugverkehr – dabei kann und muss sie hier vom Problem für den Klimaschutz zu einem Teil der Lösung für mehr Klimaschutz werden: Unternehmer:innen in Deutschland können hierbei eine aktive und wichtige Rolle spielen und notwendige Software- und Hardwarelösungen im Schulterschluss mit lokalen Nutzer:innen dynamisch weiterentwickeln.
Wir sind sicher: Von vertrauensvollen digitalen Partnerschaften profitieren am Ende alle. CIOs tauschen Erfahrungen und Lernwerte aus, Tech-Start-ups können Produkte optimieren und die Partner aus Regierung und Verwaltung lernen, dass sie weltweit vor den gleichen Herausforderungen stehen. Erfolgsmodelle können weltweit nachgenutzt werden, wie die oben schon erwähnte Pandemie-Überwachungssoftware SORMAS eindrucksvoll bewiesen hat.
Gemeinsam stärker: Unser Netzwerk für eine digitale Transformation
Auch in Deutschland profitieren wir also davon, wenn wir uns gemeinsam mit unseren Partnern im Globalen Süden für eine soziale und ökologische digitale Transformation einsetzen. Um diese Vision Realität werden zu lassen, laden wir Sie ein, sich in das vom BMZ ins Leben gerufene Netzwerk [digital.global] einzubringen und so eine wertegeleitete digitale Transformation gemeinsam voranzubringen.
Zurück zur Ukraine: Wir sind beeindruckt, wie es diesem Land mitten in einem schrecklichen Krieg gelingt, sogar den Unterricht für die Kinder weiter zu ermöglichen – während hierzulande viele Schulen nicht einmal WLAN haben. Und dennoch sollten wir unser Licht nicht unter den Scheffel stellen: Deutschland ist ein bedeutender und geschätzter Partner für die digitale Transformation, weil wir einen menschenzentrierten und wertegeleiteten Ansatz vertreten. Und das weiß übrigens auch die Ukraine zu schätzen – wie viele andere Partnerländer weltweit ebenfalls.
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